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Synagoge Bochum
Einweihung nach Neuerrichtung: 16. Dezember 2007
Ein Gedenken an unser Zusammenleben in Freienohl mit unseren jüdischen Familien!
Was es heißt
Irina Bondas, Studentin (2005)
In Kiew kam ich auf die Welt, verspätet.
Tochter von Musikern, von Geigern. Und Geiger hieß dort immer: Jude.
Aber ich war auch so eine. Ich bin auch so Jüdin, von Geburt an, bevor ich wissen konnte, was es heißt.
Als eine Mitschülerin meiner Schwester aus der ersten Klasse bei uns anrief und sagte,
sie wisse, wer wir seien.
Und damit meinte sie nicht: Musiker.
Sie sagte: „Ich weiß, wer ihr seid“, und legte auf. Und meine Schwester wusste es noch nicht, aber meine Mutter wusste es, gewöhnt daran, dass es nie anders würde – für uns, dass wir es auch noch wissen würden.
Ich weiß noch, wir machten einen Ausflug. Nicht weit von uns war so ein Park.
An diesem sonnigen Tag stand ich vor einem kleinen Tal, einer Wiese und wunderte mich, was so besonderes daran war, wieso wir gerade dahin gingen, und meine Eltern sagten: Das ist ein Denkmal. Und ich wusste nicht, wofür.
Und die meisten wussten nicht, dass einmal hinter der Gedenktafel: „Den sowjetischen Soldaten“ nackte Menschen um eine Grube standen.
Nackte Leichen mit Kanonenkugeln unter Blut, Brettern und Erde lagen, wo heute Gras und Unkraut wächst.
Und es waren nicht nur Soldaten, von Nazis versammelt.
Es waren vor ellem die, die wie so oft schon von Mitbürgern auf eine Reise vorbereitet wurden, von Maschinengewehren begleitet: Juden.
Ich weiß es jetzt: Aber wer konnte es damals wissen?
In Dachau kam mir ein Mädchen mit seiner Mutter vom Krematorium entgegen, und sie fragte die Mutter: „ist da noch Gas drin?“, und die Mutter erschrak, ist da noch Gas drin?
Ist da Gas drin?
Wie konnte ich nicht wissen, was es heißt, wenn ich auf so vielen Sprachen höre:
Dreckjude, Judensau, Jude!
Ein Schimpfwort, eine Beleidigung, ein Tabu – heute.
Das, was ich bin, - im Wissen, dass ich nicht hätte sein sollen; Jahrhunderte lang und ein halbes Jahrhundert später überlebt habe.
Wie könnte ich nicht wissen, was es heißt?
Und wie kann ich es sagen? Wenn meine Eltern es besser verschwiegen hätten, sich dafür schämen sollen, so sagte man.
Oder man sagte: „Du bist Jude, aber eigentlich in Ordnung.“
Denn Jude, das ist eine Art, ein Wesen; so sagt man.
Jude sein heißt: Sich über andere stellen, wichtig nehmen, arrogant geben.
Jude sein heißt: Betrug, Geiz, Geldsucht, Gelbsucht, Pest, Parasit.
Jude sein heißt: Dreck, Gestank, Fett.
Jude sein heißt: Krumm, schief und falsch.
Jude sein heißt: Torah, Shoah, Diaspora.
Jude sein heißt: Schweigen.
Jude sein heißt: tot.
Ist da noch Gas drin?
Hier in Deutschland hat man Angst vor Juden. Wir sind Deutschlands schlechtes Gewissen, zweifelhafte Ehre des auserwählten Volks. Auserwählt zu wissen, was es heißt:
Ist da noch Gas drin?
Wir tragen unser Judentum als Hut auf dem Kopf, als Stern auf der Brust, als Last auf dem Rücken.
Ist da Gas drin?
Wir werden als Juden geboren und sterben als Juden; wir sind Menschen;
Juden wollen Frieden.
Ist da Gas drin?
Komm, spiel es auf, sag, dass du jüdisch bist, gib es bischen an, nutz es aus.
Ist da Gas drin?
Kannst du wissen, was es heißt: ich habe eine Gaskammer im Herzen.
Wir Juden schleppen Steine aus der Wüste - an unsere Gräber.
Ich habe mir nicht ausgesucht zu wissen, was es heißt.
Vorgetragen bei der Grundsteinlegung der Synagoge Bochum am 14. November 2005 von Irina Bondas, Studentin und Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Preisträgerin für Gedichte im SlamPoetry-Stil. Geboren 1985 in Kiew, ausgewandert 1992 nach Deutschland.
Abschrift Heinrich Pasternak