- Details
Zwischen Berge, Bonn , Arnsberg:
Friedrich Adolph Sauer: „Die Versuchungsgeschichte Christi, erklärt, und von Widersprüchen gerettet“
Eine biblische Abhandlung über Matth. 4,1-11. Welche mit Disputiersätzen über die Evangelien unter dem Vorsitz des Dr. Thaddäus, der heiligen Schrift und der orientalischen Sprachen an der kurkölnischen Universität öffentlicher Ordnung Lehrers, verteidigen wird Fritz Adolph Sauer aus Berge im Herzogtum Westphalen, der Gottesgelehrtheit Beflissener. - Zu Bonn, den Julius 1789 im grössern Hörsaale, Morgens 9 Uhr.
Bonn, gedruckt bei Joh. Frid. Abshoven, Universitätsdrucker.
Original-Text in „Sammlung“ Ex Libris Adolf Kleinschnittger (+). – F. A. Sauer: geb. 1765 in Berge, gest. 1839 in Arnsberg. Hier: Abschrift mit kommentierenden Anmerkungen von Heinrich Pasternak
„Die Versuchungsgeschichte Christi, erklärt, und von Widersprüchen gerettet“
Vorbemerkung:
Bei der Abschrift wurde die gegenwärtige (2012) deutsche Rechtschreibung und Zeichensetzung verwendet, nicht die damals übliche Schreibweise bezüglich der Kasuslehre. Der damals übliche, heutzutage ungewohnte Sprachgebrauch, Wortgebrauch wurde beibehalten. Kursiv und in Klammern stehen Übertragungen; Erklärungen, Zwischenbemerkungen von HP. Innerhalb der Sauer-Textfassung sind einige Namen und Formulierungen kursiv geschrieben, im Original-Text mit einer anderen Schrift-Type.
§ 1: Eingang
Die Geschichte der Versuchung Christi gehört unter die schwierigsten Stellen des Neuen Bundes. Sie lieferte vom Kaiser Julian bis auf Voltaire herab den Bibelfeinden reichen Stoff zum Spotten, und war den gläubigen Schriftforschern ein wichtiger Gegenstand gelehrter Untersuchungen. Ich glaube daher, keine tadelnswerte Arbeit zu übernehmen, wenn ich die Gelegenheit einer hermeneutischen Schulübung in wenigen Bogen das Interessanteste sammle, das sich für und wider diese Geschichte sagen lässt und von älteren und neueren Exegeten bereits gesagt worden ist. Zuerst wollen wir die Erzählung des Evangelisten Matthäus 4,1-11 hören:
§ 2: Erzählung des Evangelisten
Zwischenbemerkung: Dies ist nicht die derzeit (2012) übliche „Einheitsübersetzung“, sondern die von Friedrich Adolph Sauer benutzte Übersetzung. - Die Anmerkungen: Kleinbuchstaben in Klammern finden sich am Schluss des Gesamttextes.
- Da wurde Jesus vom Geiste in die Wüste geführt, wo er vom Teufel versucht ward (a).
- Als er nämlich vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte und ihn endlich hungerte,
- trat der Versucher zu ihm und sprach: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass diese Steine Brot werden.
- Er aber gab ihm zur Antwort: Es steht geschrieben: Der Mensch wird nicht allein vom Brot leben, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.
- Dann nimmt ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt (b), stellt ihn auf die Zinne des Tempels,
- und spricht zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab. Denn es steht geschrieben: Er hat seinen Engeln deinetwegen Befehle erteilt; sie werden dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa an einen Stein deinen Fuß stoßest.
- Jesus sagte ihm: Es steht aber auch geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen.
- Abermals nimmt ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm die Königreiche der Welt samt ihrer Herrlichkeit.
- Dies alles, sagte er ihm, will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.
- Da sprach Jesus zu ihm: Weg, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm allein dienen.
- Darauf verließ ihn der Teufel, und sieh! Die Engel kamen und bedienten ihn.
So erzählt Matthäus. Lukas 4,1-13 kommt mit ihm fast wörtlich überein; nur beobachtet er eine andere Ordnung. Die zweite Versuchung des Matthäus ist ihm die dritte; und die zweite bei ihm ist die dritte beim Matthäus. Als Widerspruch kann die Verschiedenheit nicht gelten. Denn es ist bekannt, dass die evangelischen (die in den Evangelien aufgeschriebenen) Begebenheiten nicht der Zeitfolge nach aufgezeichnet sind. Die Ordnung des Matthäus scheint mir indessen die natürlichste zu sein, weil bei ihm das Machtwort: Weg, Satan! der Teufel entweicht und die Engel Jesus bedienen.
Markus 1,12-13 fasst die Geschichte noch kürzer, da er schreibt: „Der Geist trieb Jesus alsbald in die Wüste hinaus. In der Wüste war er vierzig Tage und vierzig Nächte, ward von dem Satan versucht, wohnte bei den wilden Tieren, und die Engel bedienten ihn.“
§ 3: Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit der Versuchungsgeschichte Christi
Wer die Evangelien, wie jede alte Geschichte, mit kritischem Auge und mit historischem Wahrscheinlichkeits-Gefühl zu lesen gewohnt ist, den werden notwendig manche Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung beunruhigen. Ich will sie unter einen Gesichtspunkt bringen und im Folgenden kurz beantworten.
- Nachdem Jesus durch die Taufe zu seinem öffentlichen Leben von Johannes eingeweiht war, soll er in die Wüste gegangen sein. Und warum? Wollte er sich vielleicht im Stillen zu seinem künftigen Lehramt vorbereiten? Allein, wie lässt sich bei einem Gott-Menschen, der allwissend sein muss, eine Vorbereitung denken? Oder wollte er der Vorgänger schwärmerischer Einsiedler sein, welche der menschlichen Gesellschaft ihren Dienst entzogen und in Wäldern und Tier-Höhlen ein untätiges, unvernünftiges Leben führten?
- Jesus fastet in der Wüste vierzig Tage und vierzig Nächte. Wie konnte er dadurch fähig bleiben, die ihm vorgesteckte Laufbahn in Gedanken zu durchwandern, die großen Pläne zur Beglückung der Menschlichkeit zu übersehen und alle zur Ausführung anwendbaren Mittel zu prüfen? Hemmt nicht ein allzu strenges Fasten den Gebrauch der Vernunft? Füllt es nicht die Fantasie mit den abenteuerlichsten Bildern? Ist es nicht mehr Hindernis, als Beförderungsmittel einer reifen Überlegung?
- Als Jesus vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihm endlich. Also die vierzig Tage und Nächte hindurch hungerte ihm nicht? Ist`s möglich, dass ein Mensch so lange ohne Speisen aushält? Denn an ein Wunder dürfen wir hier gar nicht denken, indem es ganz unnötig,zwecklos und schädlich wäre. Unnötig, weil man auch in der Wüste eine dürftige Nahrung finden kann. Zwecklos, weil weder Jesus selbst, weder das Glück der Menschheit etwas dabei gewonnen hätte. Schädlich, weil Gott dadurch den Irrtum langsamer Selbstmörder zu begünstigen schiene, die durch übermäßiges Fasten ihren Leib ausmergeln, ihm Kraft und Munterkeit benehmen (wegnehmen), und so der pflichtmäßigen Vervollkommnung des ganzen Menschen entgegen arbeiten.
- Da trat der Versucher zu Jesus. Also eine leibhaftige Erscheinung des Teufels! In welcher Gestalt zeigt er sich doch? Als Mensch? Wie konnte er unter dieser Maske Jesus alle Königreiche der Welt versprechen? Als kennbarer (erkennbarer) Teufel, in Satyr-Gestalt, mit einem Pferdefuß, Schweif und Hörnern? Was hätte dann sein Antrag Versuchendes gehabt? Wer wird seinem ärgsten Feind Gehör geben, wenn er als solcher auftritt?
- Der Teufel sprach zu Jesus: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass diese Steine Brot werden. Er möchte also wissen, ob Jesus Gottes Sohn sei? Konnte er daran noch zweifeln? War er nicht zugegen, als der Engel zu Maria sprach: Deine heilige Leibesfrucht wird des Höchsten Sohn sein? Lukas 1,25. War er nicht Zeuge, dass Jesus, ohne Zutun eines Mannes, aus einer Jungfrau geboren ward? Hörte er die Donnerstimme nicht, welche ihn am Jordan feierlich für den Sohn Gottes erklärte? Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Matthäus 3,17. Erfuhr er von dem allem nichts? Er, der nach der Lehre der Theologen überall seine Spione hält?
- Wenn wir zugeben, dass der Teufel zweifelte oder forschen wollte, ob Jesus der Sohn Gottes sei, so lassen wenigstens die Evangelisten diesen schlauen Geist seine Sache sehr übel anfangen. Wenn du Gottes Sohn bist, so spricht er: so befiehl, dass diese Steine Brot werden. Gesetzt, Christus hätte diese Steine in Speisen verwandelt, konnte der Teufel etwas daraus folgern? War Mose darum Gottes Sohn, weil er Stäbe, Wasser und Staub in Schlangen, Blut und Mücken verwandelte?
- Jesus weigert sich, dem Rat des Teufels zu folgen. Allein hätte er denn unrecht gehandelt, wenn er seine Wunderkraft zur Befriedigung eigener Bedürfnisse angewandt hätte? Gott wirkte ja schon zu seinem Besten ein Wunder, da er ihn vierzig Tage ohne Speise erhielt. War`s Sünde, zur Stillung seines Hungers durch ein Wunder Brot zu schaffen, so war`s auch Sünde, durch ein Wunder vierzig Tage zu fasten.
- Der Teufel nimmt Jesus mit sich nach Jerusalem, stellt ihn auf die Zinne des Tempels, führt ihn auf einen hohen Berg. Wie? Der Teufel soll einen Gottmenschen entführt haben? Welche Polizei würde jenen nicht als Gotteslästerer strafen oder als Wahnsinnigen einsperren, der zuerst die Nachricht brächte: Gott ist vom Teufel geholt, da oder dorthin geführt worden.
- Nach dem Zeugnis Josephs vom Jüdischen Krieg; B, 6. Kap. 6 war das Tempeldach mit großen Nägeln, deren in die Höhe stehende Spitzen von Gold waren, durchaus (so, derart) beschlagen, dass sich kein Vogel darauf setzen konnte. Und doch soll Jesus mit dem Teufel auf diesem Dach gestanden haben?
- Auf einem hohen Berg zeigt der Satan Jesus alle Königreiche der Welt, samt ihrer Herrlichkeit, und zwar in einem Augenblick, wie Lukas 4,5 anmerkt. In welchem Land liegt wohl der hohe Berg, auf dem man alle Reiche der Welt sehen kann? Oder hatte die Erde zu Zeiten Christi eine andere Figur als jetzt? Waren damals die Augen so weit reichend und allwissend?
- Der Teufel verspricht Jesus alle Königreiche der Welt, wenn er ihn anbeten würde. Der arme Teufel! Er will einen Menschen, den er nicht einmal kennt, zum Monarchen der ganzen Welt machen, zum König über Reiche setzen, die ihn gar nichts angehen! Wie lächerlich!
- Wollten wir auch die ganze Versuchungsgeschichte Christi, wie sie die Evangelisten erzählten, gutwillig annehmen, so dürfen wir doch die Frage aufwerfen: Warum ,ließ Gott dieses Wunderding geschehen? Soll uns der siegende Jesus ein Muster sein, wie auch wir den Reizungen zur Sünde widerstehen sollen? Allein, haben wir denn wie er, mit sichtbaren Teufeln zu kämpfen? Sind wir mit gleicher Stärke ausgerüstet? Kann Jesus, der nicht sündigen konnte, für uns ein Muster sein, deren verderbte Natur so sehr zum Bösen geneigt ist? Steht also nicht die ganze Versuchungsgeschichte zwecklos in den Evangelien?
Dies wären ungefähr die Zweifel, mit denen sich die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung bestreiten ließe. Vergleiche: L´Evangile de la Raison, p. 14. Sermon de Cinquant. p. 22. Melanges Philospphiques, Tom. VIII. p. 490. Briefe über die Bibel im Volkston, 74, Br. p. 337.
Ehe ich auf diese Zweifel antworte, will ich den Text kurz erklären, weil durch eine richtige Darstellung des Sinns manche Schwierigkeiten von selbst wegfallen werden.
§ 4: Texterklärung
„Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, wo er vom Teufel versucht ward.“ Die Worte: „Vom Geiste“ verstanden viele Exegeten „vom Teufel“. Allein, wenn Geist und Teufel hier Wechselworte sind, so hätte Matthäus kürzer schreiben können: Wo er von ihm versucht ward. Denn dass eine Person im nämlichen Vers eines historischen Buchs zwei verschiedene Namen bekommt, ist ungewöhnlich. Der natürlichste Sinn ist: Ein innerer, heftiger Trieb des guten, göttlichen Geistes, der in Jesus wirkte, bewog ihn, in die Wüste zu gehen. So verstand´s schon der Syrer, welcher für Geist setzt: „Rucho dekunscho : Geist der Heiligkeit“. Ebenso liest die nach ihm gemachte persische Übersetzung. Markus 2,10 nannte auch den heiligen Geist, der sich bei der Taufe auf Jesus herabließ, schlechtweg: „Pneuma – Geist“. Vergleiche Lukas 4,14. - „Wüste“ bezeichnet hier eine einsame, von Menschen unbewohnte Gegend, wie aus der Parallelstelle folgt bei Markus 1,13: „Er wohnte bei den wilden Tieren“. Welche Wüste aber eigentlich gemeint sei, lässt sich nicht mit Zuverlässigkeit bestimmen. Gewöhnlich denkt man an eine zwischen Jerusalem und Jericho, in welcher der Berg Quarantania liegt, so genannt, weil in dessen Felsenhöhlen Jesus vierzig Tage soll gefastet haben. Ich will die Beschreibung davon hier einrücken, wie sie im Pilgrims Geschmacke (Pilger-Geschmack) Morison gibt: „Voyage du mont Sinai“, p. 522:
„Die Wüste, worin Jesus Christus den herrlichen Sieg über den Teufel davon trug, liegt eine Viertelmeile von dem Brunnen Elisa, und drei Viertelmeilen von Jericho gegen Norden. Es gibt gewiss in der Welt wenige so schaudervolle Wildnisse. Und wie traurig die weitschichtigen Wüsteneien des steinigen Arabiens, die ich auf meiner Reise von Ägypten nach dem Sinai durchwanderte, immer aussehen, so sind sie doch im Vergleich mit dieser sehr anmutig. Dieser siegreiche Kampfplatz des Erlösers liegt am Fuß des Bergs, den wir Quarantania nennen. Dieser berühmte Berg senkt sich unvermerkt gegen Norden; von Osten her ist er unermesslich hoch und unbesteiglich, weil er aus lauter steilen von der Sonnenhitze ausgebrannten Felsen besteht. Die Felsen, deren Anblick den Herannahenden schon Schrecken einjagt, sind an mehreren Orten abgetrennt, und da befindet sich unter anderen an Größe und Gestalt verschiedenen Grotten auch diejenige, welche der Welterlöser durch seinen vierzigtägigen Aufenthalt in dieser Wildnis durch strenges Fasten und eifriges Gebet heiligte und uns zeigte, wie unsere Übungen in der Einsamkeit beschaffen sein müssen, damit sie uns ersprießlich werden. Vom Fuße an bis auf ein Drittel des Bergs steigt man mit größerer Mühe als Gefahr auf einem sehr jähen, aber etwas vom Absturz entfernten Wege. Dieser Weg stößt an einen anderen, der in den Felsen eingehauen, nach Art einer Stiege in die Höhe geht, und sich an einem Teil des Felsen endigt, an dem anderen sich anhält, so gut als man kann, um über eine beiläufig zwanzig Schuhe lange Strecke auf einem höchstens zwei Schuhe breiten Steg hinüber zu setzen. Dieser Steg, über den man, die Augen vom Abgrund unter den Füßen abgewandt. Und die Hände am Felsen angeklammert, schleichen muss, ist die gewöhnliche Klippe, woran die Fassung derjenigen scheiterte, welche anfangs Mut genug hätten, zu den heiligen Grotten hinauf zu steigen. Wir setzten glücklich über diesen gefahrvollen Steg, worauf wir noch eine Zeit lang am Rande des Abgrundes bald als Menschen, bald wie Tiere kriechend fort wanderten, und endlich sehr nahe an den heiligen Grotten anlangten. - Jetzt war ich an einem kleinen, höchsten anderthalb Schuhe hervor ragenden Saume des Felsen. Zur Seite und rückwärts der schrecklichste und tiefste Abgrund. Zerquetscht und zu Staub zermalmt wäre ich, wenn ich auf die Felsenstücke vor meinem Angesicht hinabstürzte (...stürzen würde); und ohne Wunder, das ich nicht erwartete, war´s kaum anders möglich. Vor mir stand ein steiler neun Schuhe hoher Fels fast wie eine Mauer da, an dem ich zur Sicherung meines Lebens nichts als einige Ungleichheiten fand, auf welchen ich mich mit den Zehen des Fußes stützen und mit der Hand ein wenig abhalten konnte. Doch geschah nichts von dem, was ich fürchtete. - Nun befanden wir uns auf einer platten Ebene, in deren Grund eine Höhle war von beträchtlicher Größe. - Von da gingen wir in eine andere, wohin ein ebenso schmaler und gefährlicher Weg führt, als der vorhin gemeldete. Sie ist ziemlich geräumig und hoch, aber doch um vieles kleiner als die dritte, die daran stößt, und in welcher nach einer alten Sage Jesus Christus ausruhte, um seinen durch Fasten erschöpften Leib nicht vollends zu unterdrücken. Man sieht da einen Ort, wo man glaubt, dass der anbetungswürdige Erlöser geschlafen habe, und man verehrt den Teil des Felsen, auf welchen er sein heiliges Haupt legte. - Diese heilige Grotte ist gleichsam das Vorgemach der vierten und letzten, zu welcher man auf sieben bis acht sehr unordentlich liegenden Staffeln hinaufsteigt. Die Grotte, beinahe viereckig, möchte im Durchschnitt fünfzehn bis sechzehn Schuhe haben. Sie ist außerordentlich hoch und hat in der Tiefe an der Wand des Berges eine Höhlung in Gestalt eines Troges, worin Jesus, wie man glaubt, auf dem Angesicht ausgestreckt, sich Gott, seinem Vater in seinem eifrigen unablässlichen (ununterbrochenen) Gebet aufgeopfert hat. - Vor Zeiten stieg man aus dieser Grotte auf den Gipfel des Berges, wohin der Luzifer Jesus führte, als er ihm alle Reiche der Welt zeigte. Aber die Tür ist izt (jetzt) vermauert, der Neugierde der Pilgrimme Schranken zu setzen, die sonst auf den berühmten Gipfel hinauf kletterten, wo sie nach überstandenen großen Gefahren öfters den Arabern in die Hände fielen, unmenschlich behandelt, oder wenigstens ausgeplündert und bis auf den bloßen Leib beraubt wurden.“
Soweit Morison. Mit ihm stimmen überein: Felix Fabri, von der Gröben, Pietro della Valle, Nau, Thevenot Hasselquist und Mariti, welche den nämlichen Berg bestiegen, und mit Maundrel, Troild, Neitzschitz, Thomson, Porocke, Shaw bezeugen, dass er sehr hoch sei und dass man von demselben eine weite Aussicht habe. Allein wie wenig man auf die alten Sagen der morgenländischen Christen, und auf die frommen Vermutungen der abendländischen Pilgrimme zählen könne, weiß jedermann. Freilich verdient die bergichte (gebirgige), rauhe und unfruchtbare Gegend um den Quarantania den Namen Wüste im strengsten Sinn; wer aber einen anderen Gesichtspunkt des fastenden Jesus, wie wir´s im Folgenden erklären, annehmen will; der wird leicht einsehen, dass dieser nackte Felsenberg kein schicklicher (geeigneter, sinnvoller) Ort für seinen Aufenthalt sei. Schon Calmet bemerkt dieses, wiewohl aus einem anderen Grund; Commentaire Litteral sur saint Matthieu chap.4,1.
„Versuchen“ heißt hier im ersten Vers: zur Sünde reizen. Der Teufel wird Versucher genannt, weil er entweder den Menschen zur Sünde reizt, oder weil ihm der Jude alles physische und moralische Übel zuschrieb, dessen Ursache er im Menschen und in der Natur nicht zu finden wusste.
§ 5: Fortgesetzte Texterklärung
Auf die Zumutung, durch ein Wunder Brot zu schaffen, antwortet Jesus: „Der Mensch wird nicht allein vom Brot leben, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ Die Stelle ist entlehnt aus 5 Mose 8,2, wo der Heerführer Israels sein Volk an die Wohltaten erinnert, die ihm Gott in der Wüste erzeigt (erwiesen, bewiesen) hatte. Er spricht zu ihm: „Sei eingedenk des ganzen Weges, den dich, Jehova, dein Gott, diese vierzig Jahre hindurch in der Wüste geführt hat, wo er dich durch Trübsal auf die Probe stellte, um deine Gesinnungen zu erforschen, ob du seine Gesetze halten wollest (willst) oder nicht. Er ließ dir´s hart gehen (machte dir das Leben schwer), ließ dich hungern, und speiste dich mit Manna, welches dir und deinen Vätern unbekannt war. So lehrte er dich, dass der Mensch nicht bloß vom Brot, sondern von jedem, was auf Jehovas Befehl erzeugt wird, leben könne.“ - Der Sinn seiner Worte ist: Lange ließest du und deine Vorfahren, da ihr mit euern Herden in den Wüsten herumzogt, das Manna als einen unnützen Saft an den Blättern der schwitzenden Stauden verderben (c). Durch meinen Unterricht aber lehrte dich Gott, wie du dieses nahrhafte Gummi essen und verschiedene schmackhafte Speisen daraus bereiten könntest. Er zeigte dir, dass man nicht in jedem Fall die gewöhnlichen (gewohnten) Nahrungsmittel mit Eigensinn fordern müsse, als wären sie zur Erhaltung des Lebens unumgänglich notwendig; sondern dass die reiche Natur, gleichsam auf göttlichen Befehl, dem Menschen fast überall essbare Produkte darbiete.
Hieraus wird die glückliche Anwendung dieser Schriftstelle und die treffende Antwort Jesu verständlich. In der Wüste, wie einst Israel, von Menschen entfernt und der ordentlichen Nahrungsmittel beraubt, wird er versucht, durch ein Wunder dieselbe sich zu verschaffen. Allein, er weist die Versuchung ab mit der Bemerkung, dass hier kein Wunder nötig sei, weil die Natur auf göttliche Veranstaltung (aufgrund göttlichen Handelns) selbst an seinem einsamen Aufenthalt ihm Mittel genug an die Hand gebe, sein äußerstes Bedürfnis zu befriedigen. Wenige Kräuter, Wurzeln, Heuschrecken, Honig in den Felsenritzen und Manna an dornichten (dornigen) Stauden seien (reichen) ihm schon hinlänglich, sein Leben zu erhalten.
§ 6: Fortgesetzte Texterklärung
„Dann nimmt ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt, stellt ihn auf die Zinne des Tempels...“ usw.
„Mit sich nehmen“ kann so viel heißen als: In Gesellschaft eines andern irgend wohin gehen. So kommt das griechische „paralambanein – paralambanein vor: Mt 17,1; 20,17; 26,37. - Mk 5,40; 10,32; 14,33. - Lk 9,10; 18,31. - Apg. 12,25; 15,37; 21,26. Gleiche Bedeutung nimmt der Ausdruck des Lukas: „agein – agein an. Vergl. 4 Mos 22,42; 23,14, 20. - Joh 8,3. - 2 Tim. 4,11. und: „histanei - 'histanei : stellen“ vergl. 1 Mos 43,9. - Mt 18,2; 2,25, 33. - Joh 8,3.
Das Wort „Zinne“ behielt ich in der Übersetzung bei und verstehe das griechische „pterygion – pterygion von einem Flügel- oder Neben-Gebäude an der steilen Seite des Tempelbergs, wo man in den über vierhundert Ellen tiefen Abgrund ohne Schwindeln nicht hinab sehen konnte. Joseph: Jüd. Altert. B. 15, Kap. 14. - Reland: Antiquit. Facr. Part. I. § 6. - Spanheim: dub. Evang. Part. III, dub. 60. - L' amy de Templo p. 799. - Lundii: Jüd. Heiligth. 2. B. Kap. 28, n. 6.
„Denn es steht geschrieben: Er hat seinen Engeln deinetwegen Befehle erteilt...“ usw.
Die Worte stehen im neunzigsten Psalm, der ein Gespräch ist von der besonderen Fürsehung (Vorsehung) Gottes zwischen zwei Frommen, die sich in allen Gefahren auf die göttliche Hilfe verlassen. Wenn nun Gott sich aller Menschen in den Gefahren annehmen will, wird er nicht seinen Sohn aus der augenscheinlichsten Todesgefahr retten? So schließt (folgert) der Versucher. Jesus antwortet:
„Es steht aber auch geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen!“ 5 Mos 6,16. Das ist: Du sollst dich nicht freiwillig ohne Not in Lebensgefahr stürzen und Gott auf die Probe stellen, ob er mächtig und gütig genug sei, durch ein Wunder dich zu erhalten.
Welches der hohe Berg sei, auf welchen Jesus vom Teufel begleitet ward, der Ölberg? Quarantania? Thabor? Libanon? Nebo? ist ungewiss. Jedes Gebirge, von dem man eine schöne Aussicht hatte, war schicklich (geeignet) zur Handlung. Der Teufel zeigt hier Jesus alle Königreiche der Welt; d.i. (das ist: das heißt) er wies ihm mit der Hand nach verschiedenen Weltgegenden, wo blühende Staaten lagen, und schilderte ihre Macht und Reichtümer mit Worten. Daß „deiknynai – deiknynai, wie das lateinische „ostendere“, eine Schilderung durch Worte heißen könnte, sehen wir aus der Bedeutung, in welcher jenes beim Hesiod: Ergon kai hemeron, Nr. 502, und dieses bei lateinischen Schriftstellern vorkommt, welche Wetstein hier anführt.
„Es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm allein dienen!“ Jesus beruft sich nicht sowohl auf die Worte, als auf den Sinn zweier Schriftstellen: 2 Mos 20. 3, 3 und 5 Mos 6, 3. Man sollte also dem hebräischen Text keine Verfälschung vorwerfen, als sei das Wort allein ausgestrichen.
„Darauf verließ ihn der Teufel, und siehe! Die Engel kamen und bedienten ihn.“
Das ist, sie brachten ihm Speise. So wird „diakonein – diakonein von Profan-Autoren bei Wetstein h. 1 und in der Bibel gebraucht: Mt 8,15; 26,44. - Lk 10,40; 12,37; 17,8; 22,27.
§ 7 Erste Schwierigkeit: Warum ging Jesus in die Wüste?
Ich will jetzt die Zweifel beantworten, die ich § 3 vorgetragen habe. Der erste war: Warum ging Jesus in die Wüste? Wollte er sich im Stillen zu seinem Lehramt vorbereiten? Allein wie lässt sich bei einem allwissenden Gottmenschen eine Vorbereitung denken? Ward er nicht dadurch Stifter des Einsiedlerordens?
Der Endzweck, aus welchem Jesus sich in die Wüste begab, ist im ersten Zweifel richtig angegeben. Er war im Jordan durch die Taufe in seinem öffentlichen Predigt-Amte sicherlich eingeweiht. Um sich ruhiger dazu vorzubereiten, entfernt er sich aus dem Zirkel seiner Freunde, entwöhnt sich des Umgangs mit seinen Verwandten, wählt zum Betrachten einen einsamen Ort, durchwandert in Gedanken seine künftige Laufbahn, denkt auf die zweckmäßigsten Mittel, das Werk Gottes auszuführen und die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Er handelt hierin, wie jeder vernünftige Mann handeln sollte, dem ein Geschäft von Wichtigkeit aufgetragen ist.
Als Gott war Christus freilich allwissend und keiner Vorbereitung fähig. Allein konnte er seiner Gottheit ungeachtet, gleich anderen Sterblichen ein Kind sein, aufwachsen, an Kenntnissen zunehmen, beten, leiden, sterben; so konnte er auch, ohne Nachteil seiner göttlichen Allwissenheit als Mensch zu seinem künftigen Amt sich vorbereiten.
Wie Jesus durch seinen Aufenthalt in der Wüste den Orden ewiger Einsiedler gestiftet habe, sehe ich gar nicht ein. Er blieb ja nicht ewig darin, ohne der Menschheit zu nützen, sondern kehrte bald, mit größerer Geisteskraft ausgerüstet, zurück und widmete sein übriges Leben dem Dienst der Menschheit. Sein Beispiel kann uns nichts anderes lehren, als dass auch wir, wenn wir ein Amt übernehmen, das von wichtigen Folgen für uns und für's gemeine Beste ist (für die Allgemeinheit das Beste ist), dass auch wir im Stillen, mit versammelten Geiste, vor den Augen Gottes, unsere Pflichten überdenken, unsere Kräfte prüfen, und durch eifriges Gebet Gott um seinen Beistand anrufen sollen.
§ 8 Zweite und dritte Schwierigkeit: Konnte Jesus vernünftig so lange fasten? Konnte er beim Leben bleiben? War sein Beispiel nicht schädlich?
Was im zweiten und dritten Einwurf wider (Einwand gegen) das Fasten Christi gesagt wird, setzt mich in Verlegenheit, wenn ich bei der gewöhnlichen Vorstellung bleiben soll, dass er jene vierzig Tage und Nächte gar nichts genossen habe. Natürlicher Weise kann kein gesunder Mensch so lange ohne Speise leben. Und eine göttliche Dazwischenkunft („Zwischendurch-Anwesenheit“) scheinen wir nicht annehmen zu dürfen, weil, wie der Einwurf sagt, ein Wunder hier unnötig, zwecklos und schädlich gewesen wäre.
Ich bin zwar weit von jener zügellosen Freiheit entfernt, die mir gewisse Eiferer zu Last legen, als suche ich alle Wunder des Alten und Neuen Testaments zu untergraben und als natürliche Begebenheiten vorzustellen.Vielmehr darf ich mich auf meine Schüler als Zeugen berufen, mit welcher Wärme ich solche Wunder verteidige, die sich verteidigen lassen, bei welchen die Gottheit eine würdige Absicht haben könnte, die ein kräftiger Beweis sind, die Wahrheit der mosaischen und christlichen Offenbarung zu unterstützen. Lassen sich aber die biblischen Begebenheiten natürlich erklären, sind sie so beschaffen, dass eine höhere Dazwischenkunft zwecklos wäre, so kann ich sie unmöglich bloß deswegen für ein Wunder halten, weil die älteren Theologen, deren Naturkunde und Bibel-Exegese eben nicht übernatürlich war, sie dafür gehalten haben. Der Gedanke: Gott ist allmächtig, ihm ist alles möglich, kann nicht befriedigen, weil Gottes Allmacht nicht anders als von Weisheit geleitet, wirken kann. Und sagen: Der Sterbliche muss nicht immer die Absichten der Gottheit einsehen, wäre bei Wundern soviel gesagt als: Die Gottheit will den Menschen unterrichten, will ihn durch Wunder auf gewisse interessante Wahrheiten aufmerksam machen; aber sie will nicht, dass er ihren Unterricht fasse und die bestätigte Wahrheit verstehe.
Wenn diese Grundsätze richtig sind, so weiß ich auf die Zweifel § 3 n. 2 und 3 nichts zu antworten, weil ich keinen Endzweck des wundervollen Fastens Christi anzugeben weiß. Notwendig war es nicht, weil auch Johannes ohne Wunder in der Wüste lebte. War die Wüste Jesu rauher, schrecklicher als jene, in welche sich Johannes aufhielt; warum wählte er sie? Versuchte er nicht Gott, da er sich freiwillig in die Gefahr zu verhungern begab? Andere Wunder wirkte Jesus im Beisein mehrerer Personen, um sie von seiner Messiaswürde zu überzeugen. Allein, da niemand vom Judenvolke bei dem Fasten Jesu zugegen war, wie kann es ein Beweis seiner göttlichen Sendung sein? Wie schädlich der Begriff eines vierzigtägigen nichts Essens sei, welchen nachteiligen Einfluss auf die missverstandene Pflicht der Abtötung durch langwieriges Fasten er habe, will ich hier nicht wiederholen, weil es im dritten Zweifel schon bemerkt ist.
Indessen lässt sich das Fasten Christi so erklären, dass alle diese Schwierigkeiten wegfallen. Nur müssen wir die alte Vorstellungsart der ersten Theologen verlassen und uns bloß an die Schrift und Exegetik halten. Matthäus sagt 4, 2: Christus fastete vierzig Tage und vierzig Nächte. Heißt denn das Wort Fasten so viel als gar nichts genießen? Kann es nicht so verstanden werden: Er aß vierzig oder mehrere Tage sehr wenig, nahm weder bei Tag, weder bei Nacht eine ordentliche Mahlzeit ein? Nehmen wir das Wort Fasten nicht eben in dem Sinne? Wird’s nicht auch anderswo in der Bibel so genommen? Wenn Esther zu den Juden in Susan spricht Est 4, 16: Drei Tage und Nächte esst und trinkt nichts, und auch ich will mit meinen Kammermädchen so fasten, verstehen wir dieses Fasten vom nichts Essen, nichts Trinken? Wie würde sie dann ausgesehen haben, als sie gleich darauf zum König ging, um ihn durch ihre Reize zu gewinnen? Lassen wir denn die vierundachtzig jährige Witwe Anna von der Luft leben, weil Lukas von ihr schreibt 2, 37: Sie entfernte sich nie vom Tempel, und lag Tag und Nacht dem Fasten und Gebet ob? (obliegen: verwirklichen)
Aber Lukas sagt ja ausdrücklich 4, 2: Jesus aß nichts in jenen Tagen, und nach Verlauf derselben hungerte ihn. Er schrieb aber auch in der Sprache des gemeinen (alltäglichen) Lebens; und wird denn in dieser das Wort nichts essen so streng genommen, dass es den Genuss jeder Speise ausschließe? Sagen wir nicht einem Freunde, der an unserer Tafel wenig aß: Sie haben nichts genossen? Spricht nicht Paulus zum Schiffsvolk Apg 27, 33: Es ist heute schon der vierzehnte Tag, dass ihr nüchtern bleibt und nichts zu euch nehmt? Will er mehr sagen als: Ihr habt schon vierzehn Tage keine ordentliche Mahlzeit gehalten? Sagt nicht Christus selbst von Johannes dem Täufer Mt 11, 18: Er trat auf, aß und trank nichts, und man schalt ihn wahnsinnig? Ist diese Stelle nicht ein klarer Beweis, dass nichts essen, nichts trinken soviel heißen könne als: sich nicht, wie andere Leute der gewöhnlichen Nahrungsmittel bedienen, nicht an ihren Mahlzeiten teilnehmen, sondern von dem leben, was die Wüste zum kümmerlichen Unterhalt darbietet, wie sich Johannes von Heuschrecken und Baumhonig nährte.
Nun, nach dieser Erklärung fastete Jesus in der Wüste eine Zeit lang, das ist, er versah sich nicht, wie die orientalischen Reisenden, mit gewöhnlichen Esswaren, sondern lebte von Kräutern, Wurzeln, Honig und anderen Produkten der Wüste; lebte sehr sparsam und hielt während der vierzig Tage und Nächte keine ordentliche Mahlzeit. Seine Absicht war, sich an Mangel und Enthaltsamkeit zu gewöhnen, damit er bei seinem Predigt-Amt aushalten könne, wo er ganze Tage mit dem Unterricht des lehrbegierigen Volks und mit Heilung hilfsbedürftiger Menschen zubrachte, ohne Speisen zu sich zu nehmen; Mt 12, 1; 21,18. Mk 3, 20. Joh 4, 34. Auch ward er dadurch in seinen Amtsverrichtungen unabhängiger von anderen Menschen, die er durch moralische Lehren bessern wollte, wie sein Vorläufer Johannes aus gleicher Absicht sich frühzeitig an eine dürftige Lebensart gewöhnte. Am Ende der vierzig Tage empfand Jesus ein sehr heftiges Verlangen, wieder einmal so eine Mahlzeit zu halten, wie er bei seinen Freunden zu haben pflegte; und weil ihm die Gerichte dazu abgehen (fehlen), wird er versucht, durch ein Wunder dieselbe sich zu verschaffen. Allein, er unterdrückt seine unzeitige Esslust mit dem Gedanken, dass man in der Wüste an kein Gastmahl denken müsse. Wie schön passt zu dieser Meinung die Erklärung der Stelle: „Der Mensch wird nicht allein vom Brot leben...“ usw., die ich oben § 5 gegeben habe!
Jetzt wird man auch nicht mehr klagen dürfen, Jesus begünstige das übermäßige Fasten langsamer Selbstmörder, die ihren Leib ausmergeln (aushöhlen), ihm Kraft und Munterkeit benehmen (wegnehmen), und so der Pflicht mäßigen Vervollkommnung des ganzen Menschen entgegen arbeiten. Denn wer sagt uns, dass Christus übermäßig gefastet, dass er seinen Leib ausgemergelt, dass er nicht so viel Speise genossen habe, um stark und munter zu bleiben? Die Dauer seines Fastens war nicht übermäßig, weil man mehrere Tage braucht, um sich gegen den Eindruck des Hungers abzuhärten, und an eine neue Lebensart sich zu gewöhnen.
Die Pflicht mäßige Nachahmung des Fastens Christi würde sich in dieser Hypothese auf wenige Menschen einschränken, derer Amtsverrichtungen gleiche Abhärtung gegen die Hindernisse des Hungers und Durstes erfordern. Z. B.: Ein Glaubensprediger, der unter wilden Völkern die beseligende Lehre des Evangeliums ausbreiten wollte, müsste nicht aus dem Schoße eines gemächlichen Lebens seine Laufbahn antreten, weil sein Mut bald scheitern wird, wenn er sich vom Überfluss in die äußerste ihm unerträgliche Dürftigkeit versetzt sieht. Er sollte sich nach dem Beispiel Jesu zuvor üben, seine Bedürfnisse einschränken, freiwilligen Mangel leiden, seinen Leib abhärten, damit er künftigen Arbeiten nicht unterliege, sondern bei den häufigsten Beschwernissen auszuhalten lerne, wie Paulus von sich spricht: „Ich habe in allen Umständen Genügsamkeit gelernt; ich weiß mich in alle Vorfälle zu schicken; ich kann mich satt essen und auch hungern, Überfluss haben und auch Mangel leiden.“ Phil 4, 11.12. Endlich verbreitete diese Hypothese auch Licht über die Frage: Warum Jesus das Volk nie zum Fasten ermahnte, und warum die Apostel in ihren Schriften das Beispiel des fastenden Christus nicht zur allgemeinen Nachfolge aufstellten.
Ich habe seither bewiesen, wie das Fasten Jesu verstanden werden könne. Wie es verstanden werden müsse, überlasse ich meinen Lesern, aus dem Vorhergehenden zu folgern. Nehmen sie es im strengsten Sinn, so müssen sie auch das Wunder anerkennen. Nur weiß ich dann die Schwierigkeiten nicht zu heben. Verstehen sie es so, wie man's in der Volkssprache versteht, so fällt das Wunder und mit ihm alle Schwierigkeit weg. Noch muss ich erinnern, dass die letzte Erklärung nicht neu ist. Gute Katholiken haben sie schon gegeben (d).
§ 9 Vierte Schwierigkeit: In welcher Gestalt redete der Teufel mit Jesus?
Der vierte Zweifel ist ebenso wichtig: „Sollen wir eine leibhaftige Erscheinung des Teufels annehmen? In welcher Gestalt? Als Mensch konnte er die Königreiche der Welt Jesus nicht versprechen. Als anerkannter Teufel hatte sein Antrag nichts Versuchendes mehr.“
Wenn wir nicht mit den Waffen der höheren Kritik das Geisterreich stürmen und durch Hilfe des Orientalismus den Teufel aus der Welt weg exegesieren wollen, so müssen wir freilich eine wahre Erscheinung desselben annehmen. Ich will die Worte der Evangelisten einstweilen nehmen, wie sie da liegen; will voraussetzen, dass die erzählte Versuchung Christi wahre Geschichte sei, dass der Satan wirklich, in körperlicher Gestalt mit Jesus gesprochen habe; und in dieser Voraussetzung den Zweifel zu heben suchen. Gefällt jemandem die Hypothese nicht, sind ihm die darauf gebauten Antworten unzulänglich, so wird er in den letzten Paragraphen andere finden, die ihn vielleicht befriedigen.
Ich dächte, es wäre am schicklichsten (sinnvollsten), den Teufel so auftreten zu lassen, wie sonst die Engel den Sterblichen erscheinen; beim ersten Blick als Menschen, dann während der Gespräche und Handlungen durch irgendein Zeichen erkennbar als höhere Geister. Bei der ersten und zweiten Versuchung brauchen wir nur eine gewöhnliche Menschengestalt. Ein Reisender oder Einsiedler, der mit Jesus am Jordan war, ihn fastend in der Wüste antraf und mit ihm nach Jerusalem auf's Fest ging, konnte ihm die beiden Vorschläge tun. Aber bei der dritten Versuchung musste er sich als obersten Schutzgeist des römischen Reichs zeigen, der nach den damaligen Begriffen eine unumschränkte Gewalt über dasselbe hatte.
Die Erscheinungen der Engel waren in jenen Zeiten nicht ungewöhnlich. Ein Engel erschien dem Zacharias beim Räuchern (Beweihräuchern) im Tempel und versprach ihm einen Sohn. Lk 2,11. Ein Engel brachte der Jungfrau Maria die Botschaft, dass sie die Mutter des Messias sein würde. Lk 1,27. Ein Engel beruhigte den gut denkenden Josef über die Schwangerschaft seiner reinsten Braut. Mt 1,20. Ein Engel verkündigte den Hirten die Geburt des Messias. Lk 2,9. Ein Engel schreckte die Wächter am Grabe. Mt 28, 2. Engel in Jünglingsgestalt machten den Weibern (positiv gewichtet) die Auferstehung Jesu bekannt. Mt 28,5. Mk 16,5. Lk 24,4. Engel, als Männer gekleidet, belehrten die staunenden Jünger am Ölberg. Apg 1,10. Ein Engel zeigte dem gutherzigen Hauptmann Cornelius den Weg zum Glück, befreite den Petrus aus Kerker und Banden und sprach dem Paulus im Sturm Mut ein. Apg 10,3; 12,7; 27,23. Der Teufel verstellte sich also nach dem Ausdruck des Völkerlehrers (Paulus): 2 Kor 11,14 in einen Engel des Lichts, und nahm den Schein eines guten Geistes an, unter welchem sein Antrag viel Versuchendes hatte. Allein Jesus erkannte ihn für das, was er war, für den Satan; nicht eben am Pferdefuß, an den Hörnern, sondern aus den gottlosen Zumutungen, die kein Werk eines guten Engels sein konnten.
Und wie treffend wird jetzt die Parallele zwischen der Versuchung, in welcher Eva sündigte, und jener, worin Jesus siegt. Die guten Engel gingen mit den Menschen im Paradies freundschaftlich um, gaben ihnen Unterricht, führten sie zum Guten an und warnten sie vorm Schädlichen. Unter der Maske eines guten Engels trat nun der Teufel zur Eva (e), beredete sie zur Übertretung eines für sie heilsamen Gebots, und ward so Urheber ihres Unglücks. Auf ähnliche Weise mag auch Jesus an seinem von Menschen entfernten Aufenthalt mit Engeln, derer ganze Heere zu seinen Befehlen und Diensten bereit standen, Umgang gepflegt haben. Vergl. Joh 1,51. - Mt 4,11; 26,53. - Lk 22,43. Unter diesen fand sich einige Mal der Satan ein und tat Forderungen an ihn, die sich zum Zweck seiner Messiaswürde nicht schickten, und zum Teil gottlos waren. Was ist in dieser Erzählung, besonders nach dem Geschmack jener Zeiten beurteilt, Unwahrscheinliches oder Lächerliches?
§ 10 Fünfte Schwierigkeit: Konnte der Teufel noch zweifeln, ob Jesus Gottes Sohn sei?
Der Teufel konnte beim Versuchen keine andere Absicht haben, als zu erforschen, ob Jesus der Sohn Gottes sei. Wie konnte er aber nach so vielen Zeichen noch daran zweifeln? Die Aussage des Engels, seine wundervolle Geburt und die Donnerstimme am Jordan mussten ihn ja vollkommen darüber beruhigen. Dies war der fünfte Einwurf.
Die Antwort ist leicht. Hätte der Satan die ewige Gottheit Jesu damals schon eingesehen, so würde er's nicht gewagt haben, ihn zur Sünde zu reizen. Denn die Unmöglichkeit eines solchen Versuchs ist zu einleuchtend. Allein aus den angeführten Gründen folgt noch nicht, dass er jenes Geheimnis wirklich erkannt habe. Ein Mensch zur Ausführung großer Pläne von der Gottheit bestimmt, ein Liebling des Himmels konnte nach jüdischem Sprachgebrauch Gottes Sohn genannt und durch ein Wunder geboren werden. In diesem Sinn nahm der Teufel die Worte des Engels und des himmlischen Vaters, wenn er sie mit angehört hat. Denn dass er sie wirklich gehört habe, dass er durch ausgesandte Spione von allen Vorfällen unter den Menschen Nachricht einziehe, ist zwar die hergebrachte Meinung der Theologen. Er ist uns aber Bürge, dass die Dämonologie der Schulen (der Theologen) richtig sei?
§ 11 Sechste Schwierigkeit: Unsere Erzählung lässt den Teufel seine Sache sehr ungeschickt anfangen
Der sechste Zweifel war, dass in unserer Erzählung der Teufel, welcher doch gewiss ein schlauer Geist ist, sein Forschungsgeschäft sehr übel anfange (anfängt). Denn hätte auch Christus die Steine in Speisen verwandelt, so konnte der Versucher doch nicht daraus folgern, er sei Gottes Sohn.
Aber eben dies, dass die Teufel schlaue Geister sind, wo ist es uns geoffenbart? Ist es billig, die biblischen Geschichten aus willkürlichen Begriffen von der List und Macht der Satane zu bestreiten? Indessen, um dem Zweifel geraden Wegs zu begegnen, finde ich den Vorwurf ungerecht. Man nehme den Ausdruck: Sohn Gottes, wie man will, so bleibt der Schluss richtig: Wer zur Beruhigung eines Zweifelnden ein verlangtes Wunder wirkt, der bestätigt eben dadurch die bezweifelte Wahrheit. Mose hat eben durch jene angeführten Wunder seine göttliche Sendung bewiesen, die er beweisen wollte. Hat der Versucher das Wort: Sohn Gottes im eigentlichen Sinn genommen, so war sein Plan noch kunstmäßiger angelegt. Denn durch Wirkung der verlangten Wunder hätte Jesus gesündigt und mithin (also) gezeigt, dass er nicht der ewige Sohn Gottes sei (f).
§ 12 Siebente Schwierigkeit: Warum weigert sich Jesus, die verlangten Wunder zu tun?
Warum sich Jesus geweigert habe, dem Antrage des Satans zu willfahren, sehen wir aus den zwei Schriftstellen, womit er ihn abwies: „Der Mensch wird nicht allein vom Brot leben“, und: „Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen.“ Er war nämlich nicht in solchen Umständen, in denen ein Wunder zweckmäßig gewesen wäre. Und Wunder verschwenden, streitet mit der göttlichen Weisheit, ist Missbrauch der verliehenen Macht, und mithin Sünde. „Die Wunder,“ schreibt Beaufobre (g) sehr richtig, „sind bestimmt, die Ungläubigen zu bekehren oder wenigstens sie zu überzeugen und ihnen alle (jede) Entschuldigung zu benehmen (weg zu nehmen). Außerdem wäre die Macht nicht mehr durch Weisheit geleitet. Daher kommt es, dass Jesus Christus den stolzen und boshaften Ungläubigen die verlangten Wunderzeichen standhaft abschlug (h). Hatte ihm der Vater sein Ansehen anvertraut, um eine bösartige Neugier zu befriedigen? Sollte er an Bösewichtern, die nicht zu bessern waren, eine Macht verschwenden, die bestimmt war, jene zu erbauen, welche die Wahrheit suchen und lieben? Nun, warum verlangte der Teufel ein Wunder von Jesus Christus? Wollte er an ihn glauben? War der Herr gekommen, den Glauben den Teufeln zu predigen? War er gesandt, sie zu bekehren und selig zu machen? Wenn also Jesus Christus auf Verlangen des Teufels ein Wunder getan hätte, so konnte er keine andere Absicht haben, als mit seiner Wunderkraft zu prangen (stolz anzugeben). Jesus gebrauchte die Macht, welche ihm der Vater gegeben hatte, mit Weisheit und Mäßigung. Nicht Ruhmbegierde, nicht irdischer Vorteil, nicht Eigennutz, sondern Liebe führte seine Wunderhand. War's um eigene Sicherheit zu tun, so floh und entwich er. Er blieb am Kreuz, als man ihm die Kraft absprach, sich los zu machen. Ein schöner Charakter des Sohnes Gottes! Seine Macht thronte zwischen Weisheit und Liebe und nur auf ihr Anraten wirkte sie.“
Auf die Vergleichung zwischen dem Wunder, welches Gott zur Erhaltung des vierzig Tage ohne Speise lebenden Jesus tat, und jenem, welches der Teufel von ihm forderte, weiß ich bei der alten Vorstellungsart des Fastens Christi nichts zu antworten; bei der neuen verschwindet der Grund des Einwurfs von selbst.
§ 13 Achte Schwierigkeit: Der Teufel soll einen Gottmenschen entführt haben
Der achte Einwurf war aus Voltaires: „Sommaire historique des quatre Evangils“ genommen, wo er den Grafen von Boulainvilliers und Lord Bolingbroke über unsere Geschichte spotten lässt (i):
Es ist nicht zu leugnen, dass die mehresten (meisten) Schriftausleger glaubten, Jesus sei vom Teufel durch die Lüfte auf den Tempel und hohen Berg geführt worden, wie einst ein Engel den Propheten Habakuk aus Judäa nach Babylon bei den Haaren führte: Dan 14, 35. Selbst die großen Männer Erasmus, Grotius, Calmet sind noch dieser Meinung; und letzterer baut darauf einen frommen Gedanken, den ihm Voltaire im Scherz nachschreibt (k).
Allein ich habe § 6 schon gezeigt, dass man die Worte: „paralambanein, agein“ und „histanei“ verstehen kann vom: mitgehen, begleiten. So ist der Einwurf gehoben (behoben). Wiewohl auch die entgegengesetzte Meinung die Antwort nicht schuldig bleibt. Sie betrachtet hier Christus nicht als Gott, sondern als Menschen. Konnte er sich in dieser Eigenschaft von teuflisch gesinnten Juden ans Kreuz schlagen lassen; warum nicht auch zugeben, dass ihn der Teufel durch die Lüfte führte?
§ 14 Neunte Schwierigkeit: Jesus konnte nicht auf der Zinne des Tempels stehen?
Der neunte Zweifel gründet sich auf die deutsche Übersetzung des griechischen „Pterygion – Pterygion durch Zinne, worunter man das Tempeldach verstand. Das war durchaus (allerdings) mit aufrecht stehenden Spießen beschlagen, dass sich weder ein Vogel darauf setzen, weder ein Mensch da stehen konnte. Durch die gegebene Texterklärung ist dieser Zweifel schon beantwortet, wo ich erinnerte, dass man das Wort „Ptergion“ durch Flügel- oder Neben-Gebäude übersetzen könne. Die Dächer dieser Flügel-Gebäude waren flach und bequem zum Spazierengehen. Siehe § 6.
§ 15 Zehnte Schwierigkeit: Wie konnte Jesus auf einem Berg alle Königreiche der Welt sehen?
Die zehnte Schwierigkeit ist ebenfalls in der Texterklärung § 6 vorläufig beantwortet. Es ist auf unserer Erdkugel kein Berg, von dem man alle Königreiche der Welt sehen könnte. Und der Evangelist sagt auch nicht, dass sie Jesus gesehen habe, sondern nur: „Der Teufel zeigte sie ihm“; das ist, er wies ihm mit der Hand nach jenen Gegenden, wo die berühmtesten Reiche lagen. Und wenn auch der Text hätte: Jesus sah die Königreiche der Welt, so wäre der Ausdruck nicht unschicklich (unkorrekt) und gäbe uns kein Recht, über die unglaubliche Höhe des Berges und über das weit reichende, allumfassende Auge Jesu zu spotten. Denn wir spotten ja nicht über die Profan-Autoren, wenn sie sich gleicher hyperbolischer (übertreibender) Ausdrücke bedienen. So lässt Ovid den Apollo zum Phaeton sprechen, Metamorphosen, Libr. II, 95:
Denique quidquid habet dives, circumspice mundus,
Eque tot ac tantis coeli, terraeque, marisque
Posce bonis aliquid, nullam patiere repulsam.
Ja, was immer die Welt – blick' um dich – hege an Reichtum,
Unter dem Köstlichen all auf Erden, im Meer und im Himmel
Wähl dir irgend ein Gut, nicht soll Fehlbitte dich kränken.
Ovid: Tristia, Libr. I, V. Elegien VII. V. 51:
Dumque suis victrix omnem de montibus orbem
Prospiciet domitum Martia Roma, legar.
Ovid: Nasonis Fastorum. Libr. I. V. 293:
Dixit, et attollens oculos diversa tuentes,
Aspexit toto, quidquid in orbe fuit.
Titus Petronius: Satyricon, Cap. 126, V. 278:
Alta petit gradiens juga nobilis Appennini,
Unde omnes terras atque omnia littora posset
Aspicere; ac toto fluitantes orbe catervas.
Aelius Spartianus, in Severo Imperatore, Cap. 3:
Somniavit primo...deinde ex altissimi montis vertice
orbem terrarum, Romamque despexit, concinentibus
provinciis lyra, voce, vel tibia.
Das Wörtchen „in einem Augenblick“, welches Lk 4,5 hinzu setzet, kann der angenommenen Erklärung nicht im Wege stehen. Denn in der Sprache des gemeinen (alltäglichen) Lebens und in der Bibel wird es nicht so streng genommen. Siehe Ruth 2, 7. Thren. 4, 6.
Grotius nimmt seine Zuflucht zu einer andern Hypothese, lässt die Königreiche der Welt durch magische Bilder in der Luft vom Teufel vorstellen, und Christus in einem Augenblick sie sehen. Allein in unsern Zeiten, die dem ahrimanischen Reich nicht sehr günstig sind, möchte diese Hypothese wenig Glück machen.
(Vereinfacht: Satans Reich; siehe Internet: Ahriman)
§ 16 Elfte Schwierigkeit: Wie kann der Teufel einem Menschen alle Königreiche der Welt versprechen?
Der elfte Zweifel, wie der Teufel einem Menschen alle Königreiche der Welt versprechen könne, wäre nicht leicht zu lösen, wenn die geläuterten Begriffe unseres Jahrhunderts zu Zeiten Christi schon gangbar gewesen wären. Allein damals hatte die Meinung, dass der Teufel der Beherrscher der ganzen heidnischen Welt sei, das Bürgerrecht noch unter den Juden. Selbst von Christus wird er genannt der „Fürst der Welt“: Joh 12,31; 14,30; 16,11. (Zur Zeit des Autors Friedrich Adolph Sauer hat der Evangelist Johannes sein Evangelium für seine griechisch sprechenden Adressaten erst sehr spät, um 90 n.C. geschrieben, - heutzutage nimmt man an: um 70 n. C.; bei F.A. Sauer wird hier seine „aufgeklärte“ biblische Hermeneutik deutlich.) Und Paulus nennt die bösen Geister Beherrscher der unaufgeklärten, bösen Welt: Eph 6,12. Beide reden im Volkston und halten die gewöhnlichen Ausdrücke bei, ohne die chaldäisch-rabbinischen Juden zu berichtigen oder zu realisieren (richtig zu stellen). Die Juden dichteten nämlich, Gott habe über die siebzig Weltvölker eben so viele Geister gesetzt, die alle unter einem Oberhaupt, dem Samael oder Todes-Engel als Universal-Monarchen stünden. Wetstein führt über Eph 6,12 folgende Stelle an: „Es sagte R. Jochanan: Als die Israeliten am Sinai Gott Gehorsam schwuren, rief Gott den Todes-Engel und sprach zu ihm: Obschon ich dich zum Weltbeherrscher über die Menschen setzte, so sollst du doch keine Gewalt über dies Volk haben, weil es meine Kinder sind.“ Mehrere talmudische Texte zitiert Lightfoot in Hor. Hebr. über Joh 12,31 und beweist, dass man eben diesen Weltbeherrscher Samael für den bösen Geist hielt, der die Eva verführte. Konnte nun der Satan diese Vorurteile der jüdischen Nation nicht benutzen, und Jesus, den er nach Verweigerung zweier Wunder für einen bloßen Menschen hielt, den Besitz jener Reiche versprechen, die man als sein Eigentum betrachtete? Allerdings war dies Versprechen betrügerisch; allein, was ist anderes von einem Geist zu erwarten, den Christus selbst einen Lügner und den Urheber der Lüge nennt? Joh 8,44.
§ 17 Zwölfte Schwierigkeit: Warum ließ Gott die Versuchung Jesu zu? Steht ihre Geschichte nicht zwecklos in den Evangelien?
Eine Begebenheit, wie es die Versuchungsgeschichte Jesu ist, setzt eine besondere Zulassung Gottes voraus. Was konnte nun Gott für eine Absicht dadurch haben? Sollte Jesus, oder sollten wir etwas daraus lernen?
Die Antwort auf diese Frage gibt uns Paulus im Brief an die Hebräer 2,17.18; 4,15.16. Jesus musste alle und sämtliche Leiden der Menschheit dulden, die Anfechtungen und Schwachheiten der Sterblichen aus eigener Erfahrung kennen lernen, damit er desto mitleidiger und teilnehmender zu unserer Rettung würde. Uns legte Gott in ihm ein Muster vor, nach welchem auch wir gegen den Versucher streiten und den Reizungen zur Sünde widerstehen sollen.
Allein, haben wir denn wie er mit sichtbaren Teufeln zu kämpfen? Sind wir mit gleicher Stärke ausgerüstet? Kann Jesus, der nicht sündigen konnte, für uns ein Muster sein, deren verderbte (verdorbene) Natur so sehr zum Bösen geneigt ist?
Ohne Zweifel haben wir oft mit sichtbaren Teufeln zu kämpfen, mit Leuten von teuflischen Grundsätzen, die wünschten, dass wir dem Idol ihres Stolzes und Eigennutzes Weihrauch streuten, die uns durch Drohen und Liebkosen zu niederträchtigen Handlungen verleiten und zu Werkzeugen ihrer unedlen Leidenschaften gebrauchen wollen. Und wenn auch unsere Versuchungen bloß innerlich wären, so könnte doch der äußerliche Kampf Jesu ein Muster unseres Seelenkampfes sein. Die Waffen, mit denen Jesus seinen Feind zurückschlug, waren Schrifttexte, Denksprüche aus der Bibel. Haben wir nicht die nämlichen (gleichen) göttlichen Schriften des Alten Bundes? Nicht außerdem die herrlichen Sittenregeln des Evangeliums und der apostolischen Briefe? Christus war unsündhaft, und unsere Natur ist zum Bösen geneigt. Dafür haben wir aber die kräftigsten Heilsmittel, welche uns die Religion Jesu an die Hand gibt und die tröstliche Zusage seines unsichtbaren Beistandes. Erreichen werden wir freilich das vollkommene Muster nicht, das wir in Jesus vor Augen sehen. Allein dies fordert Gott eben so wenig von uns, als er eine völlige Ähnlichkeit mit sich verlangt, wenn er spricht: „Seid Vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Mt 5,48. (Heilsmittel: religiös, theologisch werten, nicht medizinisch: Heilmittel)
Dies sind die Antworten, welche ich nach der gewöhnlichen Hypothese, dass alles reine Geschichte sei, dass der Teufel in sichtbarer Gestalt mit Jesus gesprochen habe, auf die vorgetragenen Schwierigkeiten zu geben weiß. Indessen will sich ein sichtbarer mit Menschen redender Teufel nicht recht mehr zur philosophischen Denkart unserer Zeiten schicken. Ein großer Teil meiner Leser wird vielleicht eine andere Erklärung dieser seltenen Erzählung wünschen, bei der kein Teufel mehr zum Vorschein kommt. Ich willfahre (komme entgegen) ihrem Verlangen, gebe noch zwei andere Vorstellungsarten an, und zeige noch zwei andere Wege, auf denen sich den Einwürfen leichter begegnen lässt.
§ 18 Die Hypothese eines Traumgesichts
Die erste Vorstellungsart, in welcher die oben benannten Zweifel größtenteils wegfielen, wäre die Hypothese, dass die Evangelisten hier nichts anderes erzählen als ein Traumgesicht Jesu. Diese Idee ist schon sehr alt; und ich finde sie schon bei einem der aufgeklärtesten Lehrer der Kirche, den kein denkender Schriftforscher ohne Ehrfurcht nennen kann, (l) den Theodor von Mopsuestia. Denn als der scharfsinnige Gegner des Christentums, der abtrünnige Kaiser Julian wider (gegen) die Versuchungsgeschichte Christi zu Feld zog (gegen sie kämpfte), antwortete ihm dieser Theologe, man müsse die Erzählung als ein Gesicht (als eine Traum ähnliche Vorstellung) betrachten (m). Mit ihm kommt überein ein anderer alter Schriftsteller (n) unter dem Namen des heiligen Cyprians, welcher behauptet, Jesus sei durch den nämlichen Geist, der ihn in die Wüste trieb, nach Jerusalem geführt worden, und er sei nicht wirklich und leiblicher Weise auf der Zinne des Tempels und auf dem hohen Berg gewesen, sondern nur im Geiste, wie der Prophet Ezechiel in einem göttlichen Traumgesicht vom Fluss Chobar in Assyrien nach Palästina auf einen hohen Berg geführt ward, wo er die Stadt und den Tempel ausmessen und wieder aufbauen sah. Die nämliche (gleiche) Meinung fing gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wieder an, stark verteidigt zu werden, und viele der größten Gelehrten erklärten sich für dieselbe. Ihre Namen und Abhandlungen mit den Gegenschriften führt Wolf an (o). (Theodor von Mopsuestia, 350 – 429, Bischof, Kilikien, Assyrien, Gegner der Verteidiger der Erbsünde; s.o. Einführung zur Disputatio zu § 18. - Cyprian, 200 – 258, Bischof von Karthago.)
Auch lässt sich aus Lk 4,1 ein exegetischer Grund dafür aufbringen. Wo Matthäus schreibt: Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt, sagt Lukas: Er ward im Geist in die Wüste getrieben. Nun aber kann „en Pneumati – en Pneumati nach Parallelstellen von einer Verzückung, von einem Traumgesicht erklärt werden. So spricht der begeisterte Johannes von seinen prophetischen Traumgesichten: „Ich war im Geiste. - Er führte mich im Geist in die Wüste. - Er führt mich im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem.“ Offb 4,2; 17,3; 21,10.
Allein (Doch) diese Erklärung hat zu viel gegen sich, als dass ich ihr beipflichten könnte. Die Erzählung der Evangelisten ist so einfach, so sehr vom Außerordentlichen entfernt, dass uns kein einziger Umstand auf ein Traumgesicht winkt. Sie fängt an und endigt sich, wie jede Geschichtserzählung anfängt und sich endigt. Wollten wir nun wegen vorkommender Schwierigkeiten sie für ein Gesicht halten; wie viele andere Geschichten des Alten und Neuen Testaments müssten wir dann in Traumgesichte verwandeln? Und was könnte Gott für eine Absicht dabei gehabt haben? Wie könnte man sagen, Jesus sei versucht, zur Sünde gereizt, im Gehorsam geprüft worden, da der Mensch in zugeschickten Träumen seiner nicht mächtig ist, nicht als Freier handelt, und weder Gutes, weder Böses tun kann?
Dem beigebrachten Beweise aus den Worten des Lukas „en Pneumati“ kann man leicht ausweichen. Sie können in verschiedener Verbindung einen verschiedenen Sinn haben. Dass sie hier übersetzt werden müssen: „Vom Geiste“, folgt aus der Parallelstelle des Matthäus, „hypo tu Pneumatos – hypo tu Pneumatos, welche keinen leidentlichen (tragfähigen) Sinn mehr gibt, wenn das „en Pneumati – en Pneumati des Lukas eine Verzückung ausdrückt. Hingegen weiß jeder Exeget, dass „en - en“ wie das hebräische „be“ sehr oft durch „von“ muss vertiert (übertragen) werden. So verstanden auch den Lukas die ältesten Übersetzer. Die Vulgata: „Agebatur a spiritu in desertum“. Der Syrer, Araber, Perser, Äthiopier: „Der Geist trug, führte ihn in die Wüste“. Fast wie der griechische Text des Mk 1,12: „ To Pneuma auton akballei eis ten eremon - To Pneuma auton akballei eis ten eremon. Aus solchen Gründen nehmen die neuesten Schriftausleger eine wahre Geschichte, eine reelle Versuchung an, die aber bloß innerlich war, und zu welcher sie gar keinen Teufel oder wenigstens keinen sichtbaren brauchten.
§ 19 Die Hypothese einer bloß innerlichen Versuchung
Die Art, wie sich durch innere Versuchung alles erklären lasse, wäre ungefähr folgende: Jesus hatte lange in der Wüste gefastet, lange keine ordentliche Mahlzeit gehalten. Bei seinen abmattenden (müde machenden) Geistesarbeiten stieg endlich sein Hunger und das Verlangen nach einem labenden Gastmahl aufs Höchste. Da entstand in ihm der verführerische Gedanke: „Bin ich nicht Gottes Sohn? Nicht als solcher mit der Kraft, Wunder zu wirken, ausgerüstet? Sollte ich nicht durch ein Machtwort diese Steine in Speisen verwandeln, und mir so ein köstliches Gastmahl bereiten?“ - Aber diesen Gedanken unterdrückte er durch die Erinnerung an einen biblischen Spruch: „Der Mensch wird nicht allein vom Brot leben...“ usw. - „Hier in der Wüste muss ich mit der Einsiedlerkost vorlieb nehmen, wenn ich anders meine Absicht erreichen will, durch Enthaltsamkeit gegen die Eindrücke des Hungers mich abzuhärten. Ein Wunder zu meiner Selbsterhaltung wäre hier verschwendet.“
Ein andersmal (anderes Mal) ging er an einem Festtag zu Jerusalem auf dem Dach eines Nebengebäudes mit anderen Israeliten spazieren. Sich seiner Messiaswürde und Wunderkraft bewusst dachte er beim Anblick der unabsehbaren Tiefe: „Wie wäre es, wenn ich mich da hinab stürzte und unversehrt erhielte? Weil ich doch der Gottheit Liebling bin, so ist jener Ausspruch: Er hat seinen Engeln deinetwegen Befehle erteilt...usw. Vorzüglich von mir zu verstehen. Durch dies abenteuerliche Wunder in Erstaunen gesetzt, wird mich die feiernde Menge für ihren Messias ausrufen.“ - Aber dieser Einfall ward gleich widerlegt durch das Andenken an die Schriftstelle: Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen. - „Dies freiwillige Hinabstürzen wäre eine gesetzwidrige Versuchung Gottes. Ich will lieber die Zeit abwarten, in welcher mir die Vorsehung Gelegenheit verschaffen wird, durch zweckmäßige, das Wohl der Menschheit befördernde Wunder die Nation von meiner göttlichen Sendung zu überzeugen.“
Die dritte Versuchung hatte Jesus, als er auf einem sehr hohen Berge stand, der ihm eine weite Aussicht in verschiedene Länder öffnete. Da ward in ihm rege der stolze Gedanke: „Sollte ich mich nicht für einen irdischen Messias ausgeben, wie ihn meine Nation erwartet? Sollte ich nicht durch meine unwiderstehliche Wunderkraft die Throne dieser Reiche stürzen und auf ihren Trümmern eine Universalmonarchie errichten? Wie leicht wäre mir dieses bei einem des Römerjochs überdrüssigen Volke, wenn ich die Umstände benutzen, den verkehrten Grundsätzen meiner Zeit folgen, und den Götzen irdischer Hoheit und des zeitlichen Interesse anbeten wollte!“ - Allein, er fasste sich bald, verabscheute den satanischen Einfall, der seiner Bestimmung am meisten entgegen war, und stärkte seinen Vorsatz, die höheren Pläne Gottes auszuführen mit dem Gedanken an das göttliche Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm allein dienen.“ Der Dienst, die Erfüllung des Willens der Gottheit allein muss die letzte Richtschnur alles menschlichen Bestrebens sein. - „Da ich nun von Gott den Auftrag habe, den Menschen bessere Grundsätze beizubringen, durch Wahrheit sie aufzuklären, durch Tugend zu beglücken, und so ein geistliches Reich unter den Sterblichen zu stiften; wie weit würde ich mich von meiner Bestimmung entfernen, wenn ich irdisch groß zu werden und weltliche Königreiche in Besitz zu nehmen trachtete?“ - Nun waren die satanischen Gedanken besiegt, und Jesus blieb eine Zeit lang von ferneren Anfällen frei. Seine Treue zu belohnen, ließ ihm Gott noch zur rechten Stunde labende Speisen bringen (p).
So verstanden wäre die Erzählung des Evangelisten gegen alle die vorigen Zweifel gesichert (q); und die Lehre von der Persönlichkeit und Macht des Teufels verlöre einen ihrer Hauptbeweise. Allein diese Erklärung supponiert (setzt voraus) so viele seltene und zum Teil verdächtige Vorkenntnisse (r), dass sie sich wenige Anhänger von Seiten katholischer Theologen versprechen darf. Kaum eines Blickes werden sie diejenigen würdigen, die als Uneingeweihte die bilderreiche Ursprache des Orients verkennen, wo so manches Ding personifiziert, so mancher Gedanke in eine sprechende Person verwandelt wird.
Den größten Unwillen wird die Erklärung der dritten Versuchung erregen. Der Evangelist erzählt: „Der Teufel nimmt Jesus mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm die Königreiche der Welt samt ihrer Herrlichkeit. Dies alles, sagt er ihm, will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Kann dies soviel heißen als: „Jesus dachte bei sich: Wenn ich weltliche Hoheit, Reichtum, Ehre zum Ziel meiner Wünsche setzen und mich für einen irdischen Messias ausgeben wollte, so wäre es mir leicht, mich aller dieser Staaten zu bemeistern.“ - Wenn's so fortgeht mit dem Bibelauslegen, so wird’s bald um die ganze heilige Geschichte geschehen sein.
Den Verteidigern dieser Hypothese wird die Antwort nicht schwer fallen. Sie werden sagen: Das zeitliche Interesse wird unter dem Bild eines Götzen, und der Eigennutz als Götzendienst vorgestellt. Wenn also der Abendländer spricht: Ich will meinen Eigennutz befriedigen, so sagt dafür der Morgenländer in seiner Bildersprache: Ich will mich vor dem Idol des Eigennutzes nieder werfen und es anbeten. Und bedient sich nicht Christus selbst dieses bildlichen Ausdrucks, wenn er zu den Juden spricht: Ihr könnt nicht zugleich Gott und dem Reichtumsgötzen (Mammon) dienen? Mt 6,24; Lk 16,13. Macht er nicht den nämlichen Gegensatz: Es ist nicht möglich, die Erfüllung des göttlichen Willens und die Befriedigung seiner Habsucht zum Hauptzweck seines Bestrebens zu setzen; oder: Gottesdienst und Satansdienst stehen im Widerspruch? Nennt nicht auch Paulus nach der gewöhnlichen Erklärung die Befriedigung des Geizes oder die Fleischeslust: Götzendienst? Eph 5,5. Warum sollte denn in der Versuchungsszene der Götze des Stolzes und Eigennutzes nicht als Dienst und Anbetung fordernd auftreten können?
Deyling (s) trägt noch einen anderen Einwurf vor, den er eigentlich gegen die Meinung vom Traumgesicht richtet, obschon er eben sowohl gegen diese Hypothese streitet. Wenn die Versuchung Christi ein Traumgesicht oder bloß innerlich sein soll, weil es seiner unwürdig scheint, mit einem sichtbaren Teufel zu disputieren; so müsste man auch das Leiden Christi für ein Traumgesicht oder für bloß innerlich halten. Denn dass ein Gottmensch leiden und am Kreuz sterben soll, kommt unserer Vernunft weit ungereimter vor als eine Teufelserscheinung. Der Zweifel ist nicht sehr erheblich. In der Leidensgeschichte handeln Menschen mit Christus, die äußerlich auf den Körper wirken müssen. Aber in der Versuchungsgeschichte kommt ein Geist zum Vorschein, dem wir so lange keinen Körper leihen dürfen, als wir die Sache durch innere Einwirkung auf die Seele Christi erklären können. Zwar blieb der Teufel in der Auslegung weg, weil unsere Psychologen in der Natur des Menschen und in den Umständen, in die er versetzt wird, die Ursachen verführerischer Gedanken finden wollen, welche der Jude außer dem Menschen (außerhalb des Menschen), im Geisterreiche aufsuchte.
Was die Vorstellungsart von einer inneren Versuchung am meisten empfiehlt, ist die Aussage des Apostels: Hebr 4,15, dass Christus in allen Stücken wie wir sei versucht worden.Nun aber wird der Mensch nicht von sichtbar erscheinenden Teufeln zur Sünde gereizt, sondern gewöhnlich fängt die Sünde an von unerlaubten Gedanken, deren Ursachen sehr mannigfaltig sein können.
Noch sollte ich einer Vorstellungsart gedenken, welche der Verfasser der Briefe über die Bibel im Volkston (t) gegeben hat. Ihm ist der Satan ein jüdischer Priester, der zuerst als Bettler, hernach als ein angesehener Herr im Feierkleid (festlichen Anzug) zu Jesus kommt, um ihn von seiner Höhle weg zu locken und durch seine Bediente (Diener) zu morden. Allein, Romane zu beleuchten oder zu widerlegen, ist keine Beschäftigung für Schriftforscher (Sprachwissenschaftler, Exegeten).
§ 20 Beschluss
Ich habe nun die Hauptvorstellungen der Versuchungsgeschichte Christi mit ihren Gründen unparteiisch vorgetragen und überlasse es dem kritischen Bibelleser, diejenige sich zu wählen, welche mit seiner Denkart am besten harmoniert. Die Absicht meiner Abhandlung war, das Ansehen der evangelischen Geschichte (des Evangeliums-Textes) gegen philosophische Zweifel zu schützen, der Gegner mag für Grundsätze hegen, als er will. Dass diese Behandlungsart der heiligen Schriften nicht tadelnswert sei, haben billig (korrekt, glaubwürdig) denkende Katholiken schon öffentlich eingestanden (u). Da ich mich für keine Hypothese förmlich erklärte (ganz und gar festlege), weder einen Satz daraus folgerte, welcher die Geisterlehre meines Kirchensystems erschüttern könnte, so wird auch die Dogmatik mit mir zufrieden sein (v).
Disputiersätze
- Der Kanon des Neuen Testaments enthält siebenundzwanzig Bücher, die wir mit allen ihren Teilen annehmen. Ihre Verfasser schrieben unter göttlicher Leitung. Die Gründe im Repertorium für biblische und morgenländische Literatur Th. IX, S. 99 gegen die Echtheit der zwei ersten Kapitel des Matthäus und gegen Kapitel 27,19, 51,53, 62-66; 28,4, 11-16 finden wir nicht so voll wichtig, dass wir diese Stellen verwerfen müssten.
- Die Grundsprache des Neuen Testaments ist Griechisch. Wahrscheinlich aber schrieb Matthäus sein Evangelium und Paulus den Brief an die Hebräeer im hebräischen Dialekt.
- Der griechische Grundtext des Neuen Testaments ist unverfälscht zu uns gekommen. Über die alte Letternform (Buchstabenform), Akzente, Unterscheidungszeichen, Abteilung in Kapitel und Verse, Alter und Wert griechischer Handschriften, berühmte Ausgaben, Quellen, Ursachen, Vergleichung verschiedener Lesarten usw. werden wir antworten.
- Die historischen Nachrichten von den syrischen, koptischen, äthiopischen, armenischen, persischen, arabischen Versionen und von ihrem kritischen Nutzen gehen wir auf Verlangen (ein).
- Unter den abendländischen Versionen ist die lateinische Vulgata die älteste und wichtigste, die man ohne Gefahr für*s katholische System öffentlich lesen und als Kirchen-Versionen zu Beweisen gebrauchen kann. In diesem Sinn erklärten sie die Bischöfe zu Trient für authentisch. (Konzil von Trient 1545-1563)
- Aus der Vulgata entstanden die übrigen Versionen des Okzidents, von denen wir die berühmtesten herzählen (aufzählen). Christen jedes Standes dürfen und sollen die Bibel in ihrer Muttersprache lesen, und die katholische Kirche hat nie das Bibellesen den Laien verboten.
- Die verschiedenen Gattungen des Schriftsinns und die Mittel, ihn zu finden, zeigen wir an und halten dafür, dass in einem Text nur ein Litterarsinn sein könne.
- Wenn die Vorschrift des Conciliums von Trient, Sessio 4: Ad coercenda petulantia ingenia etc. richtig verstanden wird, so darf sich der Exeget nicht beklagen, dass der freie Gebrauch hermeneutischer Regeln dadurch aufgehoben werde. Weder darf der Schultheologe den Exegeten für strafwürdig erklären, wenn er ihm durch bessere Auslegung die Lieblingstexte raubt, auf welchen er seine Schuldogmen baut. (Konzil von Trient; 1545 - 1563)
- Die besonderen Benennungen: Wort, Licht, Leben usw., die wir im ersten Kapitel des Johannes finden, sind gnostische Kunstwörter, die er nach den Gesetzen einer guten Streitschrift beibehielt, um seine Gegner bestimmter zu widerlegen. Sein Zweck war, die Messiaswürde und Gottheit Jesu Christi gegen die Gnostiker und die Vorzüge Jesu vor Johannes dem Täufer gegen Johannes-Christen zu beweisen. In seinem Evangelium und in den anderen Schriften des Neuen Testaments finden wir klare und entscheidende Beweisstellen für die wahre, ewige Gottheit Jesu Christi. (Gnosis, Gnostiker: hier wohl im Sinn des 18. Jh., z.Zt. Sauers: christlich häretisch, christlich nicht rechtgläubig)
- Statt der lateinischen Version Lk 2,2: „Haec descriptio prima facta est a Praeside Syriae Cyrino“ übersetzen wir: „Diese Schätzung geschah früher als Quirinius Landpfleger in Syrien ward.“
- Die Magier, welche Matthäus 2,1-12 dem neugeborenen Jesus aufwarteten, waren keine Könige, sondern orientalische Gelehrte. Ein neu entdeckter Stern, den man nach astrologischen Grundsätzen für ein Vorbedeutungs-Zeichen großer Revolutionen hielt, und die allgemeine Erwartung eines Messias brachte sie auf den Gedanken, der versprochene Thronerbe Davids müsse nun geboren sein. Ihre Zahl, ihre Namen und die Zeit ihrer Ankunft zu Jerusalem können wir nicht zuverlässig bestimmen.
- Die Knaben zu Bethlehem, Mt 2,15, scheint Herodes durch Meuchel-Mörder in der Stille umgebracht zu haben. Höher als vierzig mag sich die Zahl der Getöteten nicht belaufen.
- Johannes der Täufer, Mt 3,2, forderte durch seine Predigten die jüdische Nation zur Besserung auf. Seine Taufe war nichts als Einweihung zur Sinnesänderung, eine Zeremonie, die schon zuvor unter den Juden bekannt und bei der Aufnahme heidnischer Proselyten gebräuchlich war. In der Wüste lebte er von Heuschrecken und wildem Honig. Sein Kleid war von grobem Tuch aus Kamelhaaren gewirkt; und sein Gürtel, an welchem der Morgenländer viele Pracht verschwendet, aus gemeinem (einfachem) Leder. Die Absicht seiner strengen Lebensart war, sich dem Volk, dessen Laster er bestrafen sollte, unabhängig zu machen und den irrigen Wahn zum voraus zu bestreiten, dass der Messias, dem er die Wege bereitete, die Juden irdisch beglücken würde.
- Das interessante Nachtgespräch Christi mit dem Pharisäer Nikodemus, Joh 3,1-21, erklären wir auf Verlangen.
- Die vortreffliche und an Heilswahrheiten reichhaltige Bergpredigt Jesu, Mt 5, 6, 7 ist eigentlicher Unterricht für seine damaligen Schüler, so abgefasst, wie es ihre Vorurteile, falsche Erwartungen, verderbte Religions-Grundsätze und überhaupt die Umstände jener Zeiten forderten. Wer sie also als allgemeine Sittenlehre der Christen erklären will, der muss erst das Eigentümliche sorgfältig absondern.
- Wenn Johannes der Täufer, Mt 11,2, aus dem Kerker zwei Schüler zu Jesus sendet und ihn fragen lässt, ob er der Messias sei, so ist die Ursache nicht eigener Zweifel an der göttlichen Sendung Jesu, welcher er vor allem Volk schon öfters das feierlichste Zeugnis gegeben hatte, sondern er will seinem Freund eine schickliche (geeignete, aktuelle) Gelegenheit verschaffen, sich einmal öffentlich für den versprochenen Messias der jüdischen Nation zu erklären.
- Die Sünderin, welche Christus beim Pharisäer Simon salbte, Lk 7,30, Maria Magdalena, aus welcher sieben Dämonen vertrieben wurden, Lk 8,2, und Maria, die Schwester des Lazarus und der Martha, sind nicht die nämliche (selbe) Person. Die Kirchen-Tagzeiten (für den Tages-Ablauf festgelegten Gebete, z.B.: Matutin, Prim, Terz... Morgengebet, Tischgebet, Abendgebet... „Engel des Herrn“) müssen hierin verbessert werden.
- Dass die Besessenen, welche Christus befreite, mit gewissen Krankheiten behaftet waren, sagt das Evangelium selbst. Ob aber diese Krankheiten der wahren oder nur eingebildeten Einwirkung bösartiger im Menschen wohnender Geister zuzuschreiben seien, dürfen wir frei untersuchen. Wir werden beider Meinungen Gründe anführen und daraus die Geschichte der zwei Dämonischen erklären, aus welchen eine Legion Dämonen vertrieben ward. Mt 8,28; Mk 5,1; Lk 8,26.
- Die Geschichte der Ehebrecherin, Joh 8,3, ist echt wie jene Lk 22,43 des blutigen Schweißes Christi, den wir eigentlich (als tatsächlich) verstehen, natürlich erklären und darin die Ursache finden, warum Jesus so früh am Kreuz starb.
- Die Widersprüche, welche der Fragmentist in der Auferstehungsgeschichte Christi aufsuchte, werden wir heben (lösen). - (Fragmentist: einer, der mit Bruchstücken zufrieden ist, oder der nicht weiß, dass er nur Bruchstücke zur Verfügung hat.)
Anmerkungen
(a) Die gewöhnliche Übersetzung ist: „Auf dass er vom Teufel versucht würde.“ Allein Jesus zur Sünde zu reizen, konnte die Absicht des guten Geistes nicht sein, den Jesus antrieb, in die Wüste zu gehen. Ich setzte gleich Folge für Endzweck, die in der Bibelsprache sehr oft verwechselt werden. Siehe Ps 50,6; Jer 7,18; 27,15; Mt 10,34; Lk 9,45; 12,51; Joh 16,2. 32; Röm 1,19; Gal 5,17.
(b) d.i. nach Jerusalem; vergl. Lk 4,9; Mt 27,53. Den Namen „Heilige Stadt“ hat es auch auf den Münzen, und bei Joseph und Phils, deren Stellen Wetstein hier anführt.
(c)Ich setzte hier richtige Begriffe vom israelitischen Manna voraus. Es war eine vegetabilische (vegetarische) Süßigkeit, die noch jetzt in den Wüsten Arabiens und anderswo aus gewissen (bestimmten) Stauden dringt. S. Faber's Histor. Mannae inter Hebraeos, § 19-25. - Tournefort: Relation d'un voyage de Levant, T. I, p. 123.
(d) Siehe die Anmerkung zur kurtrierischen Fasten-Dispens dieses Jahrs in der merkwürdigen (bemerkenswerten) Schrift: Beiträge zur Verbesserung des äußeren Gottesdienstes in der katholischen Kirche. Frankfurt 1789, 1. St. p.296.
(e) Es versteht sich, dass ich keine Schlange mit Menschen reden lasse, sondern die Erzählung vom Sündenfall für ein altes hierographisches (religionsgeschichtliches) Gemälde halte, welches man nachher in Buchstabenschrift übertrug, ohne die Bilder zu ändern. Die Schlange ist Symbol des Verführers, welcher in Engel-Gestalt mit der Eva redete. Siehe Rosenmüllers Erklärung im Repertor. für biblische und morgenländische Literatur Th. V. p. 158. Auserlesene Literatur des katholischen Deutschlands, 1, B. 2. St. pag. 66. Jakob's Vernet's Selecta opuscula, Disput. IV, de lapsu Adami, deque connexis.
(f) Die Anamartesie Jesu wird hier vorausgesetzt.
(g) Discours Historiques, Critiques, Theologiques, , Tome V. p. 154.
(h) Den Pharisäern und Schriftgelehrten, Mt 12,38; 16,1. Mk 8,12. Dem Herodes Lk 23,8.
(i) p. 490. „Jamais les incredules n'ont laiffé plus eclater leur mecontentement, que sur ces trois entreprises du diable, qui s'empare de Dieu meme, & qui veut se faire adorer par lui. Nous ne repeterons pint les innombrables ecrits, dans lesquels ils fremissent de surprise, & d'indignation. Le comte de Boulainvilliers, & le Lord Bolinbroke ont dit qu'il n'ya point de pays en Europe, ou la justice ne condaminat un homme qui viendrait nous debiter pour la premiere fois de pareilles histoires de Dieu & du diable, & que par une demence inconcevable nous condamnons cruellement ceux qui penitrés pour Dieu de respect & d'amour ne peuvent croire que le diable l'ait emporté.
(k) a.a.O. Nous repondons que ce n'est pas a nous de juger de ce que Dieu peut permettre au diable qui est son ennemi & le notre. Qui n'est effrayé aus feul recit de ce transport? (dit le reverend pere Calmet) & a quoi les plus justes ne feraient – ils pas exposés de la part de cet ennemi du genre humain, si Dieu ne mettait des bornes a sa puissance & a son envie de nous nuire. Vergl. Calmet über Mt 4,11.
(l) Dies Lob legt ihm Eichhorn bei, der ihn unter die würdigsten Kirchenlehrer durch alle christliche Jahrhunderte und unter die frühesten Märtyrer seiner edlen Freimütigkeit und des schlichten, geraden Menschensinnes zählt. Allgemeine Biblioth. der bibl. Literatur, I. B. p. 621. Mit eben so viel Wärme spricht als Kenner zu seinem Ruhme Döderlein: „Theodor von Mopsuestia ist zuverlässig, unter den alten der beste, freieste und natürlichste Ausleger... Das wenige, das von ihm gedruckt ist, verrät den Mann, der mit der Bibelsprache, dem Geist der Religion und der wahren Methode, die Bibel auszulegen, mehr als seine Zeitgenossen bekannt war.“ Auserles. theolog. Bibliothek IV. B. VII. St. p. 490. Doch darf man nicht vergessen, dass er als Ketzer verbrannt ward.
(m) Siehe Münters Fragmenta Patrum Graecorum, Hafniae 17788, Fasc. I. Pag. 107.
(n) Serm. De Jejunio & tentationibus Christi. S. Cypriani Episc. Carthag. Opera, per Eralmum repurgata, Bafil. 1558, p.306.
(o) Curae Philologicae & Criticae, Tom. I. In Matth. Cap. 4.
(p) Die Schriften, in welchen ich diese Erklärung fand, sind: Beiträge zur Beförderung des vernünftigen Denkens in der Religion. Frankfurt und Leipzig 1782, Drittes Heft, pag. 89. Stromata, eine Unterhaltungsschrift für Theologen, Duisburg 1787, Zweites Stück, p. 160. Hezel's Bibel, Lemgo 1787, Th. VIII. p. 31.
(q) Über den Zweifel der Schultheologen, ob die Seele Jesu sündhafter Vorstellungen fähig gewesen sei, sieht der Exeget weg. Indessen beantwortet ihn der Verfasser des Aufsatzes: Über die Anamartesie Jesu; Stromata, 2. St. p. 113.
(r)Wie sie vorkommen in der Bibel in ihrer wahren Gestalt. Halle 1786, I. B. 1. St. Vorrede. Im Repertorium für biblische und morgenländische Literatur, Th. IV. n. V. In Eichhorn's allgem. Bibliothek der bibl. Literatur, 1. B. p. 28.
(s) Observat. Sacr. Part. II. p. 268, sq. Bei Wolf Cur. In Matth. IV.
(t) In zehn Briefen, von Br. 63 – 73.
(u) S. Wirzburger gelehrte Anzeigen für das Jahr 1786, 4. Heft p. 1008: „Die Methode des Verfassers, biblische Schwierigkeiten nach verschiedenen Grundsätzen zu heben, halten wir zur Aufrechthaltung des Ansehens der Bibel sehr dienlich und für die Religion sehr ersprießlich.“ Die Rede ist von meiner Sendungsgeschichte des Propheten Jonas, die im nämlichen (selben) Jahr herauskam.
(v) Eine vollständige Beantwortung der Frage: „Was lässt sich nach Vernunft und Schrift für unsere Zeiten vom Teufel glauben?“ hat Herr Kirchhoff von Braunschweig aus angekündigt.
Abschrift, kommentiert:
Heinrich Pasternak, Dipl. Theol., Dipl. Psychol.
Freienohl, Juni 2012, hier folgt von H.P. zu
Dr. theol. Friedrich Adolph Sauer
Eine Captatio benevolentiae
Warum heutzutage, nach gut 200 Jahren eine Doktor-Arbeit, eine Dissertation aus dem Jahr 1789 lesen und abschreiben?
Dann noch mit einem theologischen, exegetischen Thema, das besonders ethisch, moralisch ausgerichtet ist!
Gründe für die dankbare Verbeugung.
Vor dem Lehrer, dem eine neue Schule gründenden und begründenden mit einem neuen Lehr- und Schulkonzept und dem Vorbild eines tatkräftigen und kommunikationsfähigen Priesters: dem Sauerländer Friedrich Adolph Sauer!
Wer er war, das steht kurz und knapp zusammengefasst in der Zeitschrift vom Sauerländer Heimatbund „De Suerländer“, - bis auf eine Auslassung.
Ausgelassen ist der „Dr. theol.“, seine Dissertation über die Versuchungsgeschichte Jesu im Matthäus-Evangelium und mit einem deutlichen Werturteil: Sehr gründlich und umfassend, durchaus kenntnisreich bei der Benutzung der „abendländischen und morgenländischen Sprachen“ und mit einer ethischen und sozialpsychologischen Gewichtung. Die ist der Grund für die dankbare Verbeugung in der Jetztzeit!
Titel und Thema der Dissertation: „Die Versuchungsgeschichte Christi. Erklärt und von Widersprüchen gerettet. Eine biblische Abhandlung über Matthäus 4,1-11. - Unter dem Vorsitz des Dr. Thaddäus, der Heiligen Schrift und der Orientalischen Sprachen an der Kurkölnischen Universität öffentlicher Ordentlicher Lehrer; Bonn, Juli 1789 im Großen Hörsaal, morgens um 9 Uhr. - Gedruckt bei J. F. Abshoven, Universitätsdrucker, Bonn“
Entfaltung, Titel, Thema: „Die Versuchungsgeschichte Christi“, das passt genau in unsere Gegenwart: Die universitäre Begegnung, Auseinandersetzung und positionelle Klarstellung mit gerade dieser Botschaft und Lebenspraxis des Jesus von Nazareth gegen den Narzissmus in heutigen Person bezogenen, gesellschaftlichen, politischen und auch kirchlichen Lebensfeldern. Wer sich noch mehr Information für die Gegenwart wünscht: darüber informiert das zum Standardwerk gewordene 766 Seiten umfassenden Buch von Otto F. Kernberg: „Narzissmus“, gemeinsam mit 32 weiteren Autoren mit ihren Beiträgen aus allen Lebensfeldern, im Jahr 2006.
Die Dissertation für heutzutage zugespitzt und zusammengefasst: Jesus von Nazareth hat auf jeden Narzissmus, auf jeden Narzisstischen Machtmissbrauch verzichtet. Das Doppel-Wort gilt inzwischen als Fachausdruck, darum groß geschrieben. Programmatisch aktuell für das politisch gerade nicht so deutlich christlich geordnete Europa.
Ein Einblick in die Textfassung: in der Abschrift 23 Seiten:
Zunächst und selbstverständlich die Erzählung des Evangelisten Matthäus 4, 1 – 11, auf deutsch. Im Gesamttext werden die inhaltlichen Parallelen von Lukas und Markus behandelt. Wo es sich als sinnvoll erweist, wird auf die lateinische, griechische und hebräische Ausgangssprache zurückgegriffen; chaldäische Kultur-Aufweise mit ihren Autoren werden zitiert. Nicht vergessen werden darf die „richtige“ Literatur: Ovid, in Latein; und dann die kritische Klarstellung gegenüber Voltaire und anderen „Aufgeklärten“.
Dann folgen zwölf Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit der Versuchungsgeschichte Christi;. Nacheinander werden die Bibel-Verse erklärt; ergänzt durch französische zeitgenössische Theologen und sogen. „Profan-Autoren“: Historiker und Detail-Kenner des Tempels von Jerusalem und der „Wüste“ - aus der Zeit des Doktoranden.
Die Bearbeitung von zwölf „Schwierigkeiten“ ist recht spannend. Gleichzeitig, - daneben -,
die Haupt-Erkennungsmerkmale des Narzissmus nach O.F. Kernberg lesen (S. 19), ist noch spannender: „Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung (z.B. übertreiben die Betroffenen ihre Leistungen und Talente, erwarten ohne entsprechende Leistungen als bedeutend angesehen zu werden). - Beschäftigung mit Phantasien über unbegrenzten Erfolg, Macht, Scharfsinn, Schönheit oder ideale Liebe. - Überzeugung, „besonders“ und einmalig zu sein und nur von anderen besonderen Menschen oder solchen mit hohem Status (oder von entsprechenden Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen zusammen sein zu können. - Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung. - Anspruchshaltung; unbegründete Erwartung besonders günstiger Behandlung oder automatischer Erfüllung der Erwartungen. - Ausnutzung von zwischenmenschlichen Beziehungen; Vorteilsnahme gegenüber anderen, um eigene Ziele zu erreichen. - Mangel an Empathie; Ablehnung, Gefühle und Bedürfnisse anderer anzuerkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. - Häufiger Neid auf andere oder Überzeugung, andere seien neidisch auf die Betroffenen. - Arrogante, hochmütige Verhaltensweisen und Attitüden.“
Weiter zur Sauer-Bearbeitung:
Die „Schwierigkeiten“ sind nicht gleich zu setzen mit den (hier ausgelassenen) zwölf Zweifeln. Sehr deutlich wird der Bezug zum Narzissmus. Dieses Wort wird nicht benutzt, weil damals völlig ungebräuchlich. Diese „Schwierigkeiten“ seien hier aufgelistet, für heutzutage hintergründig lesenswert:
„Warum ging Jesus in die Wüste? Konnte Jesus vernünftig so lange fasten? Konnte er beim Leben bleiben? War sein Beispiel nicht schädlich? In welcher Gestalt redete der Teufel mit Jesus? Konnte der Teufel noch zweifeln, ob Jesus Gottes Sohn sei? Unsere Erzählung lässt den Teufel seine Sache sehr ungeschickt anfangen. Warum weigert sich Jesus, die verlangten Wunder zu tun? Der Teufel soll einen Gottmenschen entführt haben? Jesus konnte nicht auf der Zinne des Tempels stehen? Wie konnte Jesus auf einem Berg alle Königreiche der Welt sehen? Wie kann der Teufel einem Menschen alle Königreiche der Welt versprechen? Warum ließ Gott die Versuchung Jesu zu? Steht ihre Geschichte nicht zwecklos in den Evangelien?“
Danach wird diskutiert: „Die Hypothese eines Traumgesichts“ und „Die Hypothese einer bloß innerlichen Versuchung“.
Fast am Schluss sagt der Dr. Theol. noch: „Ich habe nun die Hauptvorstellungen der Versuchungsgeschichte Christi mit ihren Gründen unparteiisch vorgetragen und überlasse es dem kritischen Bibelleser, diejenige sich zu wählen, welche mit seiner Denkart am besten harmoniert.“
Und ganz am Schluss stehen, wie es damals üblich war, noch 20 „Disputier-Sätze“, um die persönliche theologisch-dogmatische und exegetische Korrektheit klarzustellen.
Das Lesen der Dissertation von Friedrich Adolph Sauer lohnt sich! Das im Sauerland wohl einmalige Erst-Druck-Original-Buch liegt zum Lesen bereit im Stadtarchiv Meschede im Alten Antshaus Freienohl.
Heinrich Pasternak, Dipl. Theol., Dipl. Psychol.
Freienohl, Juni 2012, März 2024.