„Arbeiterlieder“ - „Demokratische Lieder“

Das Archiv unserer Freiheit Freienohl ist nicht mehr in Freienohl
 
„Arbeiterlieder“ - „Demokratische Lieder“
In Eslohe: Aktion  -  In Freienohl: Reaktion
In Eslohe: Musik-Festival  -  In Freienohl: Ärger mit Eltern
In Eslohe: 18. Oktober 2014  -  In Freienohl: 23. November 1855
Ach so! So lange schon her! Über 150 Jahre Unterschied.
 
„Arbeiterlieder“; vielleicht in Eslohe: „Glück auf, Glück auf...!“ Oder „Drum links, zwei, drei...!“ Oder „Mit uns zieht die neue Zeit!“ Oder: „Auf, auf...!“ …
 
„Demokratische Lieder“; vielleicht in Freienohl: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“ -  „Frisch auf, frisch auf mit raschem Flug!“  -  „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“  -  „Seid nur gegrüßt, ihr deutschen Frauen!“  -  „In einem Dorf (im Sauerland) ...Das arme Dorfschulmeisterlein“
 
Die beiden letzten Lieder gehören bestimmt nicht in diesen Streit!
Was und warum, wie, wann und wer?
Die Schuljungen sangen die „demokratischen Lieder“ mit ihrem Lehrer. Und weil die Mädchen im Stockwerk drüber ihre Klasse hatten, hörten sie die Lieder und sangen oder summten sie vielleicht mit.  Wie viele? 1843 gingen in Freieohl zur Schule, alle immer in einem Klassenraum: 87 Knaben, 89 Mädchen; im Jahr 1860: 127 Jungen; im Jahr 1866: 122 Jungen, 118 Mädchen; Zwischen-Zahlen wurden noch nicht gefunden.
 
Der Leser ist schon – fast – mitten im Stadtarchiv Meschede, im Freienohler Archiv (A 1162 / 1577; Südwestfalenarchiv Arnsberg 12. Jg. 2012).
Herzlich willkommen!
 
Zusammengefasst: 1855: Mit den „demokratischen Liedern“ sind jene Freienohler Eltern und Schüler politisch zwar aktiv, - wenn auch nicht bei allen beliebt!, vielleicht auch von Vorgesetzten mit ihrer Stimmen-Mehrheit oder Macht überfordert.
 
Die Ereignisse
Am 23. November 1855 erlässt aus Arnsberg der Landrat Freiherr von Lilien eine Verfügung an den Freienohler Bürgermeister Thüsing: „Nach einem Bericht des Herrn Schul-Inspektors Schlüter  (für den kirchlichen Schulbereich war er der Vorgesetzte für den Local-Schulinspektor, Orts-Schulinspektor, Pfarrer Brand; Schlüter war Pfarrer und Dechant) in Hüsten an der Königlichen Regierung in Arnsberg haben sich bei den diesjährigen abgehaltenen Revisionen (Überprüfung des Schulbetriebs, der Schulleistungen) der dortigen Knabenschule (das Wort „Jungen“ kannte man in diesem Zusammenhang noch nicht, und mit Schule ist die Schulklasse gemeint) haben sich in den Liederheften der Kinder mehrere demokratische Lieder vorgefunden. Daher werden Sie beauftragt, einige Exemplare der gedachten (der gemeinten) Liederhefte einzuziehen und binnen drei Tagen an mich einzureichen. Es ist dabei indessen mit der nötigen Vorsicht zu verfahren, damit die demokratischen Lieder nicht vorher aus den Heften verschwinden.“
Am 27. Dezember 1855 erhält Pfarrer Brand die zwei eingereichten Liederhefte zurück.
 
Leider ist keines dieser Liederhefte zu finden, nicht im Pfarrarchiv, nicht im Amtsarchiv Freienohl. In den Akten sind auch keine Lieder zitiert, alle kannten wohl die Lieder.
Einige der damaligen „demokratischen Lieder“ finden sich heutzutage schnell im Internet und auch im „Studenten-Liederbuch“ im Stadtarchiv Meschede. Eines der bekanntesten: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“. Hier sind 4 Lied-Dichter und einige Lied-Anfänge zitiert:   Ernst Moritz Arndt, 1769 – 1860: „Was ist des Deutschen Vaterland?“, „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“,  „Ich will das Schwert lassen klingen“, „Frisch auf, ihr deutschen Brüder“. - Theodor Körner, 1791 – 1813: „Auf zum Schwure, Volk und Land“, „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, „Die ihr dort oben zieht“, „Es leuchten drei freundliche Sterne“, „Frisch auf, frisch auf mit raschem Flug“. - Wilhelm Hauff, 1802 – 1827: „Morgenrot, Morgenrot“. - Hoffmann von Fallersleben, 1798 – 1871: „Frei und unerschütterlich“, „Trennt uns Glauben, Streben, Meinen“, „Seid nur gegrüßt, ihr deutschen Frauen“, „Noch ist Freude, noch ist Leben“,  „Das freie Wort von Ort zu Ort“. Ferdinand Freiligrath, 1810 – 1876: „Die Republik, die Republik“, „In Kümmernis und Dunkelheit“, „Das war ´ne heiße Märzennacht“, „Zum Völkerfest, auf das wir ziehn“, „Wenn wir noch knien könnten“.  
Manchmal hießen in den Behörden  diese „demokratischen Lieder“ auch „sozialistische Lieder“, auch beim Googeln zum Volltext.
 
Was konkret war für die Behörden-Vertreter in Arnsberg und Freienohl so ärgerlich, so gefährlich? Und auch für Eltern ihrer Kinder? Die Väter waren Handwerksmeister, Baumeister der Schulen und Straßen; die damaligen Gemeinde-Verordneten (Ratsherren).
Hießen: Schreinermeister Heinrich Sahse, Heinrich Flinkerbusch gnt. Schweiers, Holzhauermeister Joseph Funke gnt. Schilling, Wirt Fritz Schwefer, Fritz Ernst Kerstholt, Schreiner Heinrich Düring gnt. Adames, Schützenhauptmann Maurermeister Franz Göckeler, Ackersmann Ferdinand Becker gnt. Kaiser, Postexpediteur, Leineweber, Raseur Franz Toenne, Wirt, Krämer, Bäcker Caspar Humpert, Ackersmann Franz Georg Pöttgen gnt. Riedesel, Wirt, Krämer Bäcker Bernard Becker … Vorfahren heutiger Freienohler Familien. Unbekannt war ihnen damals gewiss der 550 Jahre alte Lehrsatz von Papst Bonifatius VIII.: „Quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari! - Was alle angeht, muss auch von allen genehmigt werden!“ Jedenfalls: kultur-politisch aktiv waren sie.
Familien-Forschung im Stadtarchiv ist interessant!
 
Der Ärger Verursacher
Lehrer Friedrich Leismann war verantwortlich für diese Lieder. Er hatte vor 20 Jahren die Lehrer-Prüfung nach seinem dreijährigen Schullehrer-Seminar in Büren im August 1835 mit „Sehr gut“ bestanden und das „Zeugnis Nr. I“ erhalten. Sein Vorbild war Friedrich Adolph Sauer (1765-1835); der war Schulreformer, maßgeblich und verantwortlich für den damaligen Schulbetrieb und die Lehrer-Ausbildung; kath. Priester, in Deutschland herumgereister Schul-Pädagoge, Preußischer Schul- und Konsistorialrat in Arnsberg.
Vielleicht sang Lehrer Leismann mit seinen Schul-Jungen einige „demokratische Lieder“ schon vor 1852, vor dem Abbruch des Rathauses in seiner Knaben-Schulklasse, unten im ersten Stock, und die können laut singen. Vielleicht summte im zweiten Stock auch die Mädchen-Schule mit. Vielleicht tagte gerade im zweiten Stock, zugänglich von außen mit Hilfe einer Leiter artigen Treppe mit Geländer, die Gemeinde-Versammlung: der Amtmann und der Schultheiß und die vier oder sechs Beigeordneten. Welch ein ungehöriger Lärm! Diese Lieder! Doch anfangs gab es in der Alten Schule zur Nordseite keine Klassen-Fenster wegen des Lärms der Fuhrwerke auf der Chaussee.
Wer ein Meter-Maß zur Hand hat, kann sich leicht in die Maße einer damaligen Klasse einfühlen: für das Alter von 6–7: Sitz+Tisch: Breite 48 cm, Tiefe 73 cm, Fläche 35 cm²;
Alter von 7–8: Sitz+Tisch: Breite 48 cm, Tiefe 75 cm, Fläche 36 cm²; Alter von 8–14: Sitz+Tisch: Breite 50 cm, Tiefe 79 cm, Fläche 39 cm². Der für Schüler und Lehrer bestimmte Eingang: mindestens 1 m breit.  Der Raum für den Sitz des Lehrers, die das Podium umgebende Fläche: 1,90 bis 2,00 m breit von der Wand ab gemessen. Der Mittelgang: 50 cm breit. Die Länge, Breite, Höhe der beiden Klassenzimmer ist in den Akten nachlesbar.
Nach dem Abriss des alten Rathauses kam das Amtsbureau in den „Gasthof zur Post“, später auch schon mal „Hölle“ genannt, aber nur unter Eingesessenen.
Aus zahlreichen Leismann-Akten (im Stadtarchiv, Archiv Freienohl) kann gefolgert werden: Lehrer Leismann wusste einiges von „1848“: „Kommunistisches Manifest“, Karl Marx und Friedrich Engels, Märzrevolution in Deutschland, Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt; Freiligraths Gedichte: „Die Revolution“, „Februarklänge“, „Die Republik“, „Freie Presse“ - In Deutschland wird der zwölfstündige Arbeitstag gefordert; denn 14 bis 16 Stunden waren auch für Jugendliche (14. bis 18. Lebensjahr) üblich. Und so weiter.
 
Mit dem Archiv in die Gegenwart: „Kultur ist auf Gemeinschaft bezogen, basiert auf einen vorstrukturierten Erfahrungsraum (z.B. Stadt-Archiv), auf gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Regeln und ist sowohl gegenwarts- wie vergangenheitsbezogen.“  H. Theisen, www.DieNeueOrdnung, Okt.2014.
 
Jedenfalls: Nach dem Arbeiter-Lieder-Musik-Festival ist für geschichtliche Kompetenz für heutiges politische Denken, Handeln und Entscheiden das Lesen zu den „Demokratischen Liedern“ im Stadtarchiv Meschede steigernd für die politische Kommunikations-Fähigkeit. Freilich: unser Freienohler Archiv liegt nicht mehr vor unserer Haustür.
 
Heinrich Pasternak, Oktober 2014