Eine Provinzial-Irren-Anstalt in Freienohl! 1902

Grund: persönlich plus politisch engagierte Freienohler: Die Provinzial-Regierung in Münster plant in Freienohl wegen „sehr zügiger Freienohler Zusammenarbeit“.
 
Zur einfühlsamen Einstimmung: „Irren“ ist um 1902 nicht emotional negativ gewichtet. Heutzutage, um 2008, gelten diese Fachwörter: Nerven-Heil-Anstalt, psychiatrische Klinik, Psychiatrie-Klinikum…  Und dies ist ein Loblied auf das gesellschaftliche, politische Zusammenleben DER, aller Freienohler!
Also:
Diese Bekanntmachung steht im Arnsberger „Central Volksblatt“: „Die Errichtung der vom Provinzial-Landtage beschlossenen 5. Irren-Anstalt stößt in Eickelborn auf Schwierigkeiten, sodass anderweitig gelegene, geeignete Besitzungen in Frage kommen können.  - Bedingungen: Größe des Grundbesitzes etwa 300 – 400 Morgen, in ruhiger, gesunder Lage, möglichst mit Waldbestand; Bahnanschluss in der Nähe; Versorgung mit reichlichem guten Trinkwasser leicht ausführbar. - Angebote mit Angabe des Kaufpreises sind bis zum 1. Juni an mich einzureichen. - Münster, den 14. Mai 1902, - Der Landeshauptmann der Provinz Westfalen, Holle“    
(Alle Daten dieses Kapitels: AA 1105)
Der Freienohler Amtmann Göpfert und – aufgrund schneller Information – die Freienohler, Bockumer und Wennemer Grundbesitzer und Pächter des sofort einsichtigen Geländes reagieren schnell.  Als Platz wird ausgesucht der östliche Teil des Plastenbergs (auch der westliche Teil war vor allem bebaut mit der Ziegelei der Gebrüder Rocholl, der Wennemer Flur, Bremke (nördlich von Gut Bockum).
Die eine Arbeits- und Planungsrichtung, nach innen:
Ähnlich wie Landwirt Joseph Noeke verhalten sich die anderen Grundbesitzer und Pächter dieser Flur. Landwirt Noeke gibt am 26. Mai 1902 beim Amtmann Göpfert zu Protokoll: „In dem Plan habe ich ungefähr 40 Morgen Grundbesitz, davon sind 3 – 4 Morgen Wald; das Übrige ist Acker. Wenn an dieser Stelle eine Provinzial-Irrenanstalt errichtet werden soll, gebe ich den Grund her (die damals angegebenen Preise werden ausgelassen, weil kaum vergleichbar). In dem Preise für den Wald ist das aufstehende Holz nicht mit inbegriffen. Es ist lediglich der Preis für den Grund allein.“ - Entsprechend verhalten sich diese Freienohler: Caspar Becker gnt. Kaiser, Heinrich Geihsler, Wwe. Franz Schwefer,  Fritz Düring, Heinrich Funke, Bruchhagen, Wwe Joh. Trumpetter, Necker-Siepe, Anton Siepe, Trompetter gnt. Peters, Wwe Rocholl, Korte, Neise, Veltmann Olpe, Gut Bockum (möglicherweise ist diese Auflistung nicht vollständig).  
Die andere Arbeits- und Planungsrichtung, nach außen:
Weil so eine Einrichtung, so ein Bau, so ein Unternehmen „Provinzial-Irren-Anstalt“ für Freienohl völliges Neuland ist, schickt Amtmann Göpfert am 9. Juni 1902 an die anderen Irren-Anstalten in Westfalen einen Fragebogen, um gut informiert zu sein: „1. Wie viele Kranke sind dort? 2.  Wie viele Beamte, Angestellte, Arbeiter usw.?  3. Wie viele Köpfe zählen die Familien der unter 2 Genannten? 4. Wie viel Staatseinkommensteuer wird bezahlt? a) von den Beamten usw. insgesamt? b) von den Kranken? 5. Wie viel Staatseinkommensteuer zahlt a) der höchst besteuerte Beamte? b) der höchst besteuerte Kranke? 6. Wie hoch ist die Grund- und Gebäudesteuer der Anstalt? 7. Wie viel schulpflichtige Kinder sind in den Familien der Beamten usw. vorhanden? - Ungefähre Angaben genügen.“
Der Direktor von Lengerich antwortet am 19. Juni 1902:  Zu 1.:285 Männer und 255 Frauen. Zu 2.: 15 Beamte, 78 Pflegepersonen und 30 sonstige Angestellte. Zu 3.: „8 Familien mit 121 Köpfen, einschließlich Dienstboten. Zu 4 a: Von den Beamten und sonstigen Angestellten werden circa 862 Mark Staatseinkommensteuer bezahlt. Zu 4 b: Ist hier nicht bekannt. Zu 5 a: Der höchst besteuerte Beamte zahlt 232 Mark Staatseinkommensteuer. Zu 5 b: Hier unbekannt. Zu 6: (hier ausgelassen) Zu 7: In den Familien der Beamten sind 20 schulpflichtige Kinder.
Es antworten die Einrichtungen: Telgte, Eickelborn, Münster, Aplerbeck (schickt außerdem etwas später einen 29 Seiten umfassenden gedruckten Haushaltsplan; aus ihm wird hier nichts übernommen, obgleich die Textfassung wesentlich umfassender ist als die 7 Freienohler Fragen).
Mit der Überschrift „Stimmen aus dem Publikum“, mit der Stimmung von der Basis –sagt man wohl heutzutage, veröffentlicht die „Westdeutsche Volkszeitung“ (Nr. 230, 10. Jahrgang; ungekürzt AA 1105) diesen Beitrag: „Zu diesen Mitteilungen unter dieser Rubrik übernimmt die Redaktion nur die pressegesetzliche Verantwortlichkeit. - Bei der Errichtung der 5. Irrenanstalt der Provinz Westfalen kommt als eine der ersten Stellen F mit in Frage. Die Gemeinde F hat sich zur Hergabe des Waldbodens nur schwer entschlossen, wozu sie auch ihre guten Gründe hatte. Die Gemeinde besteht zum größten Teil aus sogenannten kleinen Leuten und Fabrikarbeitern. Fast jede Familie derselben hat einige Morgen Land nötig zu Gärten, Kartoffeln, Korn und dem nötigsten Futter. Dieses ist meistens Pachtland. Die Gemeinde hat nur eine verhältnismäßig kleine Feldmark. Durch Erwerbung als Gelände für die Anstalt gehen der Gemeinde-Feldmark ca. 400 Morgen Ackerland und Wiesen verloren. Es wird also in Zukunft für die Leute schwer, wenn nicht unmöglich sein, das nötige Pachtland zu erhalten. Man verschlechtert also die soziale Lage der kleinen Leute, welche weitaus die Mehrheit in F bilden, statt danach zu streben, sie zu bessern. Die Kommunalabgaben dürften mit der Zeit durch die Anstalt auch wohl eine Steigerung erfahren durch Wegebau, neuen Schulbau...Der Verkehr, den die Anstalt mit sich bringt, wird sich zweifelsohne... Der Lärm der verkehrenden Züge...Außerdem ist die Thalmulde ein Fangschirm für die rauhen Weststürme im Winter mit ihrem starken Schneetreiben... Die Wahl des Terrains wird wohl schon in diesem Monate stattfinden und werden wir nach derselben noch auf diese Angelegenheit zurückkommen.
In den Akten ist ein reger Brief-, Informations- und Telegramm-Verkehr (!) aufbewahrt zwischen dem Amtmann Göpfert von Freienohl und dem Landrat Schmedding in Arnsberg und den Freienohler Gemeinde-Verordneten, Flur-Pächtern und Grundbesitzern; zu letzteren gehören auch Graf Wedel auf Gut Sandfort und Familie Emilie  Wrede auf Gut Bockum.
Der Landeshauptmann der Provinz Westfalen aus Münster schickt eine Kommission. Die hat auch „die Besichtigung verschiedener zum Ankauf angebotener Besitzungen beschlossen, u.a. auch die in der Nähe des Bahnhofs gelegenen...“ Münster bestellt auch Flur-Zeichnungen durch das Arnsberger Katasteramt; die liegen inzwischen wieder in der Akte 1105.  „Dann“,  so der Amtmann, trifft man sich „morgen Mittwoch, am 23. Juli nachmittags auf dem Amtshaus... Es handelt sich um den Grundankauf für die Irrenanstalt.“ 
Die Gebrüder Rocholl informieren seitens ihres Baugeschäfts, ihrer Ziegelei den Amtmann Göpfert, „dass wir in den nächsten drei Jahren jährlich  1 ¼ bis ! ½  Millionen Ziegelsteine zu liefern im Stande sind“.
Für die Gespräche hat sich Amtmann Göpfert einige Notizen gemacht, u.a.: „Lage: in gesundheitlicher Beziehung geschützt, nebelfrei, Höhe. Landschaftlich schön; im Gegensatz zu Warstein, seine Eisenwerke! - Allerdings die Kirche! Aber! (gemeint ist wohl: zu Fuß etwas zu weit entfernt: die St. Nikolaus-Pfarrkirche). Gelände in Freienohl billiger als in Warstein; allein an Ziegelsteinen 100.000 bis 150.000 Mark billiger. Wasser: hier sicher genug; wenn nicht aus dem Gebirge, dann aus der Ruhr, das ist auch sicher und für alle Zeit genug, vor allen Dingen gut. Kiesgrund, wunderbar schöne Filter, dagegen Warstein. Messungen allerdings unbekannt – Gelände: Ausdehnungsfähigkeit, hier genug. - Fabriken: Die Ziegelei gibt wenig Dampf ab – gegen die drei Eisenwerke in Warstein betrachtet...“
Am 10. Oktober 1902 schreibt der Landeshauptmann der Provinz Westfalen in Münster an den Amtmann in Freienohl: „Euer Wohlgeboren teile ich hierdurch ergebenst mit, dass  die Kommission für den Neubau einer 5. Provinzial-Irren-Anstalt in ihrer Sitzung vom 4. Oktober für die Errichtung einer solchen Anstalt das Gelände bei Warstein bestimmt hat. Ich ersuche ergebenst, den Interessenten hiervon gefälligst (damals sehr positiv gewichtet!) Mitteilung machen zu wollen... 3 Karten, 1 Grundsteuerfortschreibung, 1 Auszug aus der Grundsteuer Mutterrolle – Besitz Wrede – liegen bei.  Für die in dieser Angelegenheit aufgewendeten Bemühungen verfehle ich nicht, Ihnen den verbindlichsten Dank ergebenst auszusprechen.“  - Am Rand notiert: „An Emilie Wrede geschrieben. Den anderen Bescheid sagen lassen. Zu den Akten, 14. Oktober 1902“
Graf Wedel in Sandfort schreibt am 3. Januar 1903 an den Amtmann: „Ich bedauere sehr, mehr für Freienohl als für mich, dass der Vertrag mit der Provinz nicht zustande gekommen ist... Aus hiesiger Quelle weiß ich aber, dass die Entscheidung für Warstein gefallen ist, weil dort für den Unterricht der Familienglieder der zahlreichen Beamten besser gesorgt werden könne. Auch soll die Provinzial-Eisenbahn, die dort vorbei führt, mit den Ausschlag gegeben haben.“
Zu guter Letzt eine Lese-Korrektur im Zeitungsartikel der „Westdeutschen Volkszeitung“ oben: Erscheinungsdatum: 2. Oktober 1902. Und an Stelle des Buchstabens F nicht so sehr Freienohl meinen, sondern Suttrop lesen.
Nun keine Lese-Korrektur, sondern einige Lese-Motivationen: 1. Von 1902 zur Psychiatrie nach Eickelborn in der Nazi-Zeit zum Nachdenken in der Jetztzeit: Internet: Eickelborn Nazi-Zeit; u.a. Eickelborn 2o.08.2021. – 2. Homepage Freienohler.de: Geschichtstexte H.P.: Unsere Schule Freienohl, zum Amtshaus als neue Schule mit Bewohnern einer unserer jüdischen Familien. Und: Freienohler Wohnen 1903  - 1906. – Heirats-Hauptregister des Königlichen Preußischen Standesamtes Freienohl 1874 – 1935. –
 
Schließlich ein befreiender Zeit-Vergleich, nicht abschließend sondern aufschließend: Früher, um 1902 gab es als allgemein bekannt noch nicht das psychologische und ethische Wissen zum nichtbinären Menschen. Heutzutage, im Jahr 2023, ist ein nichtbinärer Mensch selbstverständlich ein bekanntes Mitglied im Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland. – Bis in die Gegenwart hinein, bis rund um 2010, fielen zahllose männliche Katholiken, - siehe: katholisch.de -, in die entwicklungspsychologisch bedingte Narzissmus-Falle, geschützt mit Geistlicher Berufung, Spiritualität; siehe Literatur u.a. Reinhard Haller, Otto F. Kernberg. – An der Seite der Irrläufer beten Christen: „…Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern…“ Echte Freienohler Freiheit. Erinnert sei an das Lied bei Aktion Mensch: YouTube: „Jeder Mensch ist anders und anders ist normal“.
 
Heinrich Pasternak, 2008, 2023